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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Narbe schon nicht mehr. So schnell gewöhnt man sich an äußerliche Abweichungen. Selbst grauenhaft Entstellte können in der Liebe glücklich sein, wenn sie jemanden finden, der keinen Wert auf Symmetrie legt. Die meisten Menschen haben allerdings die Angewohnheit, ungeachtet der Natur die Dinge in zwei Hälften zu teilen, die jeweils der anderen Spiegelbild sein muß.
    Egon von Bötticher war schön, seine Narbe war häßlich. Eine schlampige Wunde, beigebracht mit einer stumpfen Waffe in unsicherer Hand. Weil man mir nichts davon gesagt hatte, lernte er mich als erschrockenes Mädchen kennen. Ich war achtzehn und viel zu warm angezogen, als ich nach meiner ersten Auslandsreise aus dem Zug stieg. Maastricht – Aachen, ein Katzensprung. Mein Vater hatte mich zum Bahnhof gebracht. Ich sehe ihn noch vor dem Abteilfenster stehen, überraschend klein und mager, während hinter seinem Rücken die Dampfsäulen aufragen. Er machte einen komischen Hüpfer, als der Wagenmeister mit zwei Hammerschlägen anordnete, die Bremsen zu lösen. Neben uns zogen die roten Wagen aus den Bergwerken vorbei, dahinter eine Waggonreihe mit brüllendem Vieh, und inmitten dieses Lärms wurde mein Vater immer kleiner, bis er hinter der Biegung verschwand. Keine Fragen stellen, einfach losfahren. In seinem Monolog eines Abends nach dem Essen war nicht einmal Raum gewesen, um Luft zu holen. Es ging um einen alten Freund, einst ein guter Freund, noch immer ein guter Fechtmeister. Bon , weiter, wir müßten ehrlich sein, wir wüßten, daß ich diese Chance wahrnehmen müsse, um im Sport etwas zu erreichen, oder wolle ich etwa im Haushalt arbeiten, na also, betrachte es als eine Art Urlaub, ein paar Wochen Fechten im schönen Rheinland.
    Zwischen den beiden Stationen lagen vierzig Kilometer, zwischen den alten Freunden zwanzig Jahre. Auf dem Bahnsteig in Aachen stand von Bötticher und schaute in die andere Richtung. Er wußte, ich würde schon zu ihm kommen, so ein Mann war er. Und mir war durchaus klar, daß er dieser sonnengebräunte Riese mit dem perlweißen Homburg sein mußte. Zu dem Hut trug er keinen Anzug, sondern lediglich ein Kammgarnpoloshirt und eine Art Seemannshose, so eine mit breitem Bund. Sehr modisch. Und da kam ich, die Tochter, in einem ausgebesserten Trägerkleid. Als er mir seine aufgerissene Wange zuwandte, wich ich zurück. Das wilde Fleisch war mit den Jahren verblichen, aber immer noch rosig. Ich denke, mein Erschrecken hat ihn gelangweilt, diesen Blick sah er natürlich öfter. Seine Augen wanderten zu meiner Brust. Ich griff nach meinem Medaillon, um zu verbergen, was in so einem Kleid ohnehin kaum zu sehen ist.
    »Das ist alles?«
    Er meinte das Gepäck. Er knetete meine Fechttasche, fühlte, wie viele Waffen darin waren. Meinen Koffer mußte ich selbst tragen. Sehr schnell löste sich das süße Bild auf, das ich von meinem Fechtmeister hatte, bevor ich ihn kennenlernte.
    Dieses Bild war aus einem verschwommenen Foto in unserem Familienalbum heraus entstanden. Zwei Männer,der eine ernst, der andere verwackelt. Darunter ein Datum: Januar 1915.
    »Das bin ich«, hatte mein Vater gesagt und auf den ernsten Mann gedeutet. Und über den anderen, von dem nur zu erkennen war, daß er einen aufgeknöpften langen Soldatenmantel und eine Pelzmütze trug: »Das ist dein Fechtmeister.«
    Meine Freundinnen fanden das Foto toll. In das unscharfe Gesicht lasse sich etwas hineinlesen. Er sei stattlich und galant, das zähle, und er besitze ein Landgut, auf dem ich rumfaulenzen könne, das müsse doch enden wie in einem Film. Ich sah nur einen abgekämpften Mann ohne Waffe. Über meinem Bett hingen nicht Gary Cooper oder Clark Gable, sondern die Brüder Nadi. Ein einzigartiges Foto, das ich nirgends wiederfinden konnte: Aldo und Nedo, Olympiahelden, beide Rechtshänder, beim Gruß vor einem Gefecht. Fechter werden nicht oft in dieser Pose fotografiert. Hier stehen sie sich in derselben Haltung gegenüber, zwischen ihren kerzengeraden Körpern liegen exakt vier Meter, beide halten sich die Klinge vor das unmaskierte Gesicht. Auf dem Foto sieht es so aus, als würden sie am Stahl ihrer Waffe vorbei einander taxieren, doch bei Wettkämpfen dauert ein Grußritual nie lang. Nicht wie früher, als Duellanten zum letztenmal das Leben in den Augen des anderen betrachteten.
    Herrn Egon von Böttichers Gesicht erhielt Kontur durch Krieg und Frieden , in das ich ihn als Lesezeichen gesteckt hatte. Wenn ich das Buch aufschlug, entwich er mir
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