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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Lippen. Mein Vater ging aufgedreht zwischen uns her. An einer Bude spendierte er uns eine Coca-Cola. Zuerst kostete er sie vor, skeptisch: Was war da eigentlich drin, war es wohl geeignet für die Damen? Tante Clara Bow drängte darauf, daß wir uns das Fechten ansahen. Mein Vater hielt das für eine sehr schlechte Idee. Diese Wettkämpfe fanden nicht einmal im Stadion selbst statt, sondern in einer Halle davor, wo die Hölle los war, als Zuschauer nach einem Boxkampf später mit den Fäusten aufeinander losgingen. Auch als wir zu den Fechtwettkämpfen kamen, gab es Krach. Siehst du, sagte mein Vater, Kampfsport ist ansteckend, daß die Kampflust aufs Publikum überschlägt, beweist, daß wir es hier nicht mit einem Sport zu tun haben, sondern mit ordinärer Keilerei. Tante Clara Bow gab ihm einen Kuß, das reichte, um ihn Richtung Eingang zu lenken. Sie wußte nämlich, daß eine ganz besondere Sportlerin fechten sollte: Helene Mayer. Die Blonde Hee nannten die Deutschen sie. Eine Art Filmstar, wie Tante Clara Bow.
    Als ich die Mayer zum erstenmal sah, verfiel ich in die Art von Anbetung, die Mädchen unpäßlich macht. Ich war zehn, sie siebzehn. Helene war die Halbgöttin, die ungezähmte Beinahe-Frau, die alle erwachsenen Frauen von der Planche jagte. Frauen nahmen noch nicht lange an den Spielen teil. An wem hätte ich mir ein Vorbild nehmen sollen? An den Tanten in ihren weiten Hosen, die am Ende der achthundert Meter völlig ausgepumpt über die Ziellinie stolperten? Auf der Tribüne war mein Vater Zuschauer wider Willen. Zuschauer des Duells, aber auch des Fiebers, das von seiner Tochter Besitz ergriff. Vergeblich versuchte er, auf mich einzureden. Egal, wie man es betrachtete, diese Damen sollten ihre Gelenkigkeit doch besser bei einer weiblicheren Disziplin wie Ballettanz, Eiskunstlauf oder Turnen einsetzen. Die hübschen Gesichter hinter käfigartigen Masken, schrien sie wie die Tiere, wenn sie getroffen wurden. Nicht vor Schmerz, das verhinderten diese lachhaften Anzüge ja, vor Angst. Erinnerte ich mich an den Hahn Pontius, der ausgerissen und von Oma bei den Füßen gepackt worden war? Der hatte sich die Lungen aus seinem kleinen Leib geschrien, hatte gedacht, sein letztes Stündlein hätte geschlagen – da hatten wir doch ein Mordsmitleid mit ihm, nicht wahr? Also, so etwas nennt man Todesangst. Dafür muß einem nichts weh tun, das ist keine Spielerei. Ich hörte nicht auf ihn. Ich saß vorn auf der Sitzkante. Die Spielregeln verstand ich nicht. Fechtkämpfe lassen sich von Laien kaum verfolgen, selbst dem Schiedsrichter reichen die eigenen Augen nicht, er muß auf die der Sekundanten zurückgreifen. Mein Blick war auf Helene Mayer gerichtet, die Siegerin. Mein Vater sah, wie immer, nur das Opfer. Er redete immer weiter über Schafotte und rachsüchtige Horden, doch Helene hatte mich ihm bereits abspenstig gemacht. Später sollte sie im Drahtgeflecht meiner Maske auftauchen, wenn ich einen Ausfall machte. Ihre Ausfälle waren unübertroffen. Ihr ganzes Wesen, von der Achillessehne bis zur Spitze ihrer Waffe, war darauf aus, aus einem Meter achtundsiebzig Körpergröße und einer Klinge von neunzig Zentimetern einen Ausfall von mindestens drei Metern herauszuholen.
    Bevor wir wieder nach Limburg zurückfuhren, frisierte Tante Clara Bow mich im Stil von Helene. Ein Mittelscheitel, zwei Affenschaukeln in Ohrenhöhe, das Ganze festgehalten von einem Band um den Kopf. So blieb das Haar aus dem Gesicht, und die Maske paßte trotzdem. Während des Wettkampfs gegen Oelkers waren bei Mayer die geflochtenen Haare aufgegangen und ihr in goldenen Strähnen über die Schultern gefallen. So eine teutonische Halbwilde konnte natürlich nicht verlieren. Ich selbst war schmächtig, einen Kopf kleiner – kein Vorteil beim Fechten – und brünett. Fortan sollte ich mein Haar nie mehr anders tragen. Blödsinnig altmodisch, fanden meine Freundinnen, die sich jeden Monat gegenseitig die Haare schnitten, um »flott« auszusehen.
    Nach den Spielen mußte sich mein Vater meiner Schwermut beugen. Meine Vorwürfe waren nicht laut gewesen, ich hatte keine Träne vergossen, aber ich schmollte fast ein Jahr lang. Mit Dumas und selbstgebackenen Keksen verkroch ich mich unter die Decke. Jeden Abend verschwand ich mit einem Backblech nach oben, und im gleichen Maße wie ich nahmen die Bücher an Umfang zu, durch die Krümel, die sich zwischen den Seiten ansammelten. Als mein Vater mich schließlich zu sich rief, lag auf seinem
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