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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Schoß eine Fechtjacke. »Für meinen kleinen bösen Musketier.« Typisch mein Vater, der Arzt: sorgt als erstes für den Schutz, für eine Jacke, die aussieht wie ein Gipsverband. Er hatte eine Fechtschule in der Stadt gefunden. Der Beitrag war niedrig, und Anfänger konnten die benötigte Ausrüstung gegen eine Gebühr leihen. Louis, der Fechtmeister, ich weiß nicht, ob er diesen Titeltragen durfte, hatte keine Diplome, war noch sehr jung, ging mit der Kassiererin vom Cinéma Palace. Er lieh mir ein rostiges Kinderflorett. Alle in der Gruppe fochten mit verrostetem Material, ein guter Grund, sich nicht treffen zu lassen, sonst hatte man für immer einen braunen Fleck auf der schönen Jacke. Erst zu meinem sechzehnten Geburtstag bekam ich mein erstes Erwachsenenflorett. Nach dem Unterricht, als alle nach Hause gegangen waren, rief Louis mich zu sich und zog schwungvoll eine hinreißende Waffe hervor. Eine richtige! Die Klinge schien mir neu, glänzend und federnd. Louis öffnete die Hand, und ich sah einen geriffelten Ledergriff.
    »Hier, nimm.«
    Ich nahm ihm das Florett aus der Hand. Paßte so gerade eben. Der Griff endete an meiner heftig pochenden Pulsader.
    »Nicht zu groß?«
    »Nein, es ist toll«, flüsterte ich.
    »Wird sich deiner Hand noch anpassen. Der Stahl ist sehr steif, ich biege ihn mal für dich zurecht.«
    Ich sah gespannt zu, wie er die Waffe unter seiner Schuhsohle durchzog, um eine Durchbiegung in die Klinge zu kriegen.
    »Schon besser. Dieses Florett gehört dir, wenn mir dein Vater einen Gefallen tut. Es ist wichtig, daß du ihn sofort fragst. Es muß sehr bald und in aller Diskretion geschehen. Das gilt auch für dich, kein Wort zu niemandem!«
    Mein Vater runzelte die Stirn, als ich ihm die Botschaft überbrachte. Natürlich fragte ich sofort, ob es um eine Abtreibung gehe, ob das Mädel vom Palace-Kino etwas wegmachen lassen müsse. Diese Möglichkeit schob mein Vater schockiert beiseite. Allein schon, daß ich von diesenDingen wüßte! Abgesehen davon sei es noch gar nicht gesagt, daß ich die Eigentümerin dieser Waffe würde, egal, wie die Gegenleistung aussehe. Louis, der könne es sich ja noch überlegen. Er selbst dagegen hätte mir zum Geburtstag etwas anderes schenken wollen, keine Waffe, großer Gott. Da habe ich meinem Vater, dem Pazifisten, dessen Beruf es war, Wunden zu heilen, alles erklärt. Daß ein Florett nicht dazu da sei zu töten. Daß es eine Übungswaffe sei, eine sportliche Erfindung, die nie auf dem Schlachtfeld zum Einsatz käme. Daß die Klinge nachgebe, um tödliche Stiche zu verhindern, daß damit keine Gliedmaßen abgehackt werden könnten und daß nur der Rumpf Trefffläche sei, daß es seinen Namen dem stumpfen Ende verdanke, das früher einmal einer Blütenknospe glich. Es war das erste Mal, daß mein Vater sich von mir etwas sagen ließ. Ich wurde mit dieser Waffe erwachsen, meinem Lieblingsflorett.
     
    Als einziges Kind war ich meines Vaters ein und alles, mein ein und alles jedoch war Helene Mayer. Jahrelang träumte ich davon, gegen sie zu fechten. Auf dem olympischen Podest in Berlin hatte »das gut gewachsen rheinisch Mädel« dagestanden wie eine Statue, feierlich in ihrer hochgeschlossenen Fechtjacke und der weißen Flanellhose, das Hakenkreuz wie eine Brosche mittig auf der Brust und den rechten Arm nach vorn gestreckt. Eine Stufe höher stand eine Ungarin mit der Goldmedaille und einer kleinen Eiche in einem Topf. Daß sie sich mit Silber begnügen mußte, machte Mayer nicht viel aus, doch wegen des Bäumchens soll sie geweint haben. Sie hätte gern so ein Andenken aus deutscher Erde in ihr neues Zuhause, nach Amerika, mitgenommen. Daß sie genau, als ich ankam,Deutschland verließ, erfuhr ich erst später. Als hätte ich sie verpaßt. Vielleicht war das aber auch nur gut, denn nach den Worten von Böttichers kannten gute Fechter nur ein Idol: sich selbst.

4
    In der ersten Nacht auf Raeren kamen die Tauben in mein Zimmer. Ich träumte, sie liefen mit ihren faltigen Füßen auf mir herum. Ein dicker grauer Täuberich mit einem Kropf versuchte mir ein Muttermal vom Hals zu picken. Weil es so stickig war, hatte ich die Balkontür angelehnt gelassen, aber jetzt traute ich mich nicht mehr aufzustehen, um sie zu schließen. Es schien, als wären sie überall, als bewegten sie sich scharrend durchs Zimmer. Auf dem Stuhl durchsuchte eine Silhouette ihre Flügel nach Flöhen. Wegen des flatternden Vorhangs schien der Mond nur dann und wann ins Zimmer,
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