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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ich war zu müde, um nach dem Lichtschalter zu suchen, und zog mir die Decke bis zum Kinn. Am Morgen roch ich es sofort, das Vogelchaos. Sahnige Kleckse auf dem Teppich. Umherfliegender Flaum, als ich aus dem Bett stieg. Auf dem Balkon hatte eine Schlacht gewütet, heftig in ihren eigenen Ausscheidungen umhertretend und ihr halbes Federkleid verlierend waren sie hinein- und hinausgelaufen. Was hatten sie gewollt? Jetzt war es völlig still auf dem Dach.
    »Das ist doch zum Totschämen«, sagte Leni, die kam, um mich zum Frühstück zu rufen. »Taubenmist ist hochbakteriell. Eine Lungenentzündung kann man davon bekommen, hab ich in der Woche gelesen. Ich werde Heinzi sagen, er soll ein Gitter bauen. Wir können auch versuchen, eines der Zimmer unten herzurichten.« Sie nahm die Kanne vom Waschtisch und schüttete einen Schwall auf den Balkon. Dann wurde ein Besen aus dem Flur geholt, mit dem hantierte sie breitbeinig vorgebeugt, fluchend: »Wissen Sie, wieviel Haufen ich heute schon wegmachen mußte? Das gehört nicht zu meinen Pflichten. Es ist nicht unsere Aufgabe, ewig den Mist wegzukehren, wir haben immer in der Keksfabrik gearbeitet.«
    Sie habe hier noch eine Weile zu tun, ich müsse die Küche allein finden. Die Treppen runter bis zur Diele, Tür rechts vom Spiegel, Flur dahinter bis zum Ende, Stufen runter, dann würde ich mit der Nase darauf stoßen. Keine Bange, der Chef sei heute allerbester Laune. Habe einen Spaziergang gemacht, einen jungen Hasen geschossen, mache selbst das Frühstück. Und ach ja, sie solle mir ausrichten, er freue sich auf meine Gesellschaft. Mir stieg das Blut in die Wangen. Mit dieser galanten Einladung war Graf Bolkonski wieder auf der Bildfläche erschienen. Ich steckte mir das Haar auf, streckte den Hals und machte mich auf den Weg zu ihm. Auf der Treppe versuchte ich, meine Füße so zu setzen, daß es nicht knarrte. Doch als ich unten war, zerschlugen sich alle Erwartungen wieder. Von Bötticher saß nicht an der Stirnseite eines weiß gedeckten Tisches, sondern stand mit dem Rücken zu mir am Spülstein, wo er Hackfleisch knetete.
     
    Wenn ich mich heute zurückerinnere, habe ich meine jungen Jahre im Grunde sämtlich mit Tagträumen zugebracht. Die Hingabe, die ich darauf verwandte, machte es zu einer ermüdenden Angewohnheit. Ich hatte nie genug Zeit, die Geschichte zu einem Ende zu bringen, sondern mußte im nächstfolgenden ungestörten Moment den Faden wieder aufgreifen und stieß dann auf Unvollkommenheiten, denn, um nur ein Beispiel zu nennen, so ein Luftschloß mußte geputzt werden, ein junges Mädchenbrannte vielleicht mit deinem Geliebten durch, während eine alte Hexe das Bild mit ihrer Einmischerei trübte, und womit beschäftigte sich so ein Prinz eigentlich den ganzen Tag? Bevor ich alle Hindernisse beiseite geräumt hatte, war schon wieder eine Stunde vergangen. Phantasien wie diese hielten mich nachts vom Schlafen ab, mit manchen Geschichten lebte ich jahrelang, sie wurden immer detaillierter bis hin zu den Mustern auf den Manschetten meines Brautkleids. So besessen spintisieren nur Mädchen, da bin ich mir sicher. Alle jungen Menschen idealisieren die Zukunft, Mädchen jedoch auch die Gegenwart.
     
    Von Bötticher also, nicht Bolkonski. Er trug ein langes Hemd mit weiten, bis zu den Ellbogen hochgekrempelten Ärmeln und keinen Hut mehr. Er wurde bereits grau. Er war nur wenige Jahre jünger als mein Vater. Wie lange würde es dauern, bis mir das richtig bewußt wäre? Die Einbildung ist hartnäckiger als die Wirklichkeit, das weiß jeder Verrückte, wenn er einen hellen Moment hat. Und wenngleich von Bötticher jedesmal selbst an meinem Bild von ihm kratzte, hatte ich mir genug zusammenphantasiert, um nächtelang Stoff zu haben. Er wandte mir seine heile Wange zu, nickte, als wüßte er, was mich beschäftigte. Er fragte nicht, ob ich gut geschlafen hätte, mit so etwas gab er sich nicht ab.
    »Wo ist Leni?«
    »Die beseitigt den Taubenmist in meinem Zimmer.«
    Von Bötticher tat, als hätte er das nicht gehört. Er zog weiße Häufchen durchgedrehten Specks aus dem Fleischwolf, drückte sie in die Farce und gab einen Schuß Kognak darüber. Dies waren Gerüche, die ich nicht kannte. Meine Mutter machte zoervleisj mit Essig, wie es sich gehört.Wein kippten wir sicher nicht ins Essen, den tranken wir nur einmal im Jahr. Hochprozentiges kam uns nicht mal ins Haus. Unser Nachbar ließ mich einmal während einer Schneeballschlacht auf der Straße von seinem
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