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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ersetzte.
     
    Kaninchen sind verrückt danach . Ich kostete die Worte, während ich Heinz ins Dachgeschoß folgte. Die Treppe ertrug uns wie ein altes Lasttier, ächzend von einem Stockwerk zum nächsten. Dort blieb der Diener jeweils stehen, stellte meinen Koffer ab, griff nach dem nächsten Geländer und knarrte weiter hinauf, Stufe um Stufe.
    »Fechten Sie schon lange?«
    »Seit der Olympiade.«
    Heinz drehte sich stirnrunzelnd um. Er dachte an die Spiele in Berlin, die ein paar Wochen zuvor zu Ende gegangen waren.
    »Ich meine die Spiele von 1928, in Amsterdam.«
    »Ach so. Sie hätten unsere Olympiade sehen müssen. Die Olympiade der Olympiaden. Es gab einen Staffellauf mit dem olympischen Feuer.«
    In jedem Stockwerk suchte ich das Tageslicht, sah aber nur Flure mit geschlossenen Türen auf beiden Seiten. Je höher wir kamen, desto unheimlicher roch es. Kein Gestank, sondern die Luft unbenutzter Räume. Einst war dieses Haus erbaut worden, weil ein Leben vorbereitet wurde, genug, um zehn Zimmer, eine Küche und einen Ballsaalzu füllen. Die Treppe hatte einen jungen Hausherrn ausgehalten, der seine Braut nach oben trug, über das Geländer waren Kinder gerutscht, doch Jahrzehnte gingen ins Land, die Treppe wurde hinauf- und manchmal nicht mehr lebend heruntergestiegen, ein Zimmer wurde verdunkelt, ein Stockwerk verstummte, dann das nächste und das übernächste, bis es still blieb auf der letzten Stufe. Dieses Haus hatte lange leer gestanden, das spürte ich. Manche Häuser überwinden so etwas nie. Ein frischer Anstrich hilft da nicht, eine verlassene Frau wird noch trostloser, wenn sie sich herausputzt. Besser so lassen: Risse, Schmutzflecken, der fettige Abdruck einer Hand, die zwischen Abendessen und Ball schnell irgendwo Halt gesucht hat, die vom Zuknallen der Tür locker gewordene Klinke. Die Tapete im Dachgeschoß hing in Fetzen herunter. Eine Katze, ein Kind, eingesperrt? Es war drückend heiß.
    »Wohnt Herr von Bötticher hier schon sein ganzes Leben?«
    »Nein.« Heinz stellte meinen Koffer vor einer kleinen Tür ab und suchte an seinem Schlüsselbund. »Er kommt ursprünglich aus Königsberg. Nach dem Krieg hat er erst in Frankfurt gewohnt, dann kam er hierher. Eigentlich sind das Dinge, die Sie nichts angehen.«
    Das Zimmer war besser als erwartet, war sonnig, hatte einen kleinen Balkon. Olivgrüne Tapete, hohes französisches Bett, Tisch mit Schreibutensilien, Petroleumöfchen. Das Gurren kam ganz aus der Nähe. Heinz öffnete die Balkontür, zwei Tauben drehten in der Luft ab.
    »Ich muß schnell weiter«, sagte er und verließ rückwärts das Zimmer. »Ich kann jetzt nichts mehr für Sie tun, meine Frau wird Ihnen später etwas zu essen bringen. Waschen können Sie sich am Ende des Flurs, da ist Wasser.«
    Er polterte die Treppe hinunter und ließ mich mit den Vögeln zurück. Ich begann, meinen Koffer auszupacken. Der Wäscheschrank war verstaubt, ich opferte eine Socke, um ihn auszuwischen. Vertrocknete Fliege auf dem Nachttisch, gestorben während eines ziellosen Irrflugs: weg damit. An ihren Platz Krieg und Frieden , Fechttasche in die Ecke, Mantel an den Haken. Auf dem Boden meines Koffers fand ich den Umschlag. Fester Karton, großes Format. Auf der Vorderseite lediglich der Name des Adressaten: Herr Egon von Bötticher, ein Name wie ein Fausthieb. Ich ging damit ans Sonnenlicht, aber der Karton gab nichts preis.
    Ich habe daran gedacht, natürlich. Wenn ich den Brief zu diesem Zeitpunkt gelesen hätte, wäre manches vielleicht anders gelaufen. Doch die Erfahrung lehrt, daß die Entdeckung den Aufwand nicht lohnt. Die spannenden Vorstellungen, die einem im Kopf herumspuken, während man einen Umschlag über Wasserdampf öffnet, verflüchtigen sich beim Anblick des Briefes. Ein paar Mitteilungen über das langweilige Leben eines anderen, was hat man davon. Danach muß man zuschauen, daß man das Ganze wieder zuklebt, kämpft mit eingerissenen Rändern, mit Nervosität und Scham. Also legte ich den Brief zur Seite.
    Aus dem Garten ertönte gedämpftes Fluchen. Über den Rasen glitt der Schatten eines Menschen mit etwas an einem Strick, das aussah wie ein Ball, aber nicht rollen wollte. Es war Heinz mit dem größten Kaninchen, das ich je gesehen hatte. Ich schaute noch einmal richtig hin. Ja, es war tatsächlich ein Kaninchen. Wirklich riesige Ohren, riesige Beine, die keine Schritte machen konnten, sondern nur dann und wann einen Sprung, zur Seite, zurück. Heinz zeigte wenig Geduld mit
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