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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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genauso, wie er sich vor dem Objektiv bewegt hatte. Las ich weiter, so nahm er Form an. Im Nebel der unscharfen Verewigung hatte er seinen Stolz verloren. Eigentlich trug er keine Pelzmütze, sondern einen Zweispitz, goldene Epauletten auf den Schultern, links von seinem Schoß einen Säbel in einer roten Scheide. Da war ich mir sicher. Im Zug versuchte ich schnell weiterzulesen, wurde jedoch durch einen zu mir her schielenden Fahrgast abgelenkt. Jedesmal, wenn ich aufsah, sah er weg. Ich las ein paar Sätze, spürte dann wieder seinen hitzigen Blick durch das Abteilfenster über meinen Körper wandern und begann, noch schneller zu lesen. Ganze Passagen übersprang ich, um dorthin zu gelangen, wo ich ankommen wollte: beim Kuß zwischen Bolkonski und Natascha. Den erwischte ich gerade noch rechtzeitig, bevor wir in den Tunnel fuhren. Der Fahrgast war verschwunden. Ich steckte das Foto weg. Ich brauchte kein Gesicht, meinen Bolkonski würde ich unter Tausenden erkennen. An jenem Spätsommertag des Jahres 1936 war er der ansehnlichste aller Männer am Aachener Bahnhof. Als ich näher kam, entpuppte er sich als verunstalteter Flegel, der mich meinen Koffer selbst ins Auto heben ließ.
    »Ihr Vater hat gesagt, worum es geht?« fragte er.
    »Ja, Herr von Bötticher.«
    Im Klartext: nein. Keine Ahnung, wovon er sprach. Besser fechten zu lernen, darum ging es mir, doch mein Vater kannte den Meister aus einer Vergangenheit, die nicht mehr lange dunkel bleiben würde. Deutscher, von Adel, Landgut Raeren. Meine Mutter begann kopfschüttelnd zu schluchzen, als sie das hörte. Eine andere Reaktion hatten wir nicht erwartet. Der Pfarrer hatte sie vor den Nazis gewarnt, die Katholiken angeblich schlecht behandelten. Mein Vater sagte, sie solle sich nicht so ins Bockshorn jagen lassen. Ehrlich gesagt, ich habe nicht richtig zugehört. Nazis sagten mir nichts. Um von Bötticher dagegen kam man nicht herum. Er fuhr aus der Stadt, ohne zu bremsen, durch unbefestigte Haarnadelkurven; wenn er schaltete, stieß seine Hand grob gegen mein Bein, und sein Knie, rechts vom Lenkrad, hätte sich an meines gelehnt, wenn ich mich im Kabriolett nicht schräg hingesetzt hätte. Er war nicht seinem Alter entsprechend gekleidet. Er trug Sandalen, die mit einem Band um die Knöchel gebunden waren. Mein Vater hätte gesagt: ein Stutzer.
    »Wir sind da«, war der dritte Satz, den er an mich richtete, nach bestimmt einstündiger Fahrt. Vor dem Tor bremste er so abrupt, daß ich vom Sitz flog. Er warf die Fahrertür hinter sich zu, stiefelte zum Gitter, stieß es knurrend auf, schoß, als er wieder im Wagen saß, auf die Auffahrt und stieg abermals aus, um das Tor zu schließen. Die dazugehörigen Geräusche machten deutlich, vorläufig würde ich hier nicht mehr rauskommen. Zwischen den verblühten Kastanien neben der Auffahrt sah ich als erstes den alten Dachreiter, der als Taubenschlag diente. Es würde eine Woche dauern, bis ich trotz des Getrippels und Gegurres schlafen konnte. Danach sollte mich eine viel größere Unruhe nicht schlafen lassen.
     
    Stelle zwei Spiegel einander gegenüber, und sie zeigen sich im jeweils anderen. Immer kleiner und undeutlicher, doch der eine wird vor dem anderen nicht verschwinden. So ist es auch mit manchen Erinnerungen. Sie können den ersten Eindruck nicht abschütteln, der eine ältere Erinnerung birgt. Vor dem Jahreswechsel hatte ich im Kino The Old Dark House gesehen, mit Boris Karloff, bekannt aus Frankenstein, in der Hauptrolle. Ich erkannte Raeren aus diesem Film wieder, sah jedenfalls eine Ähnlichkeit. Ich wußte schon damals, daß ich in meiner Erinnerung stets das Haus aus dem Film sehen würde, daß die Fenster immer offenstünden, mit wehenden Gardinen, daß die Spiegel zerbrochen bleiben würden und der Wilde Wein um die Haustür mausetot.

2
    Die Haustür glich dem Deckel eines Sarges. Ich übertreibe natürlich, doch als von Bötticher mich vor der geschlossenen Tür stehenließ, weil er etwas im Auto vergessen hatte, strahlte vor allem Einsamkeit vom Haus auf mich ab, und umgekehrt. In den wenigen Minuten, die so verstrichen, starrte ich auf den schwarzen Lack, den stumpfen Türklopfer und die silbernen Nägel, dann ging die Tür auf, und zu allem Überfluß erschien auch noch ein leichenblasser Gnom auf der Schwelle. Er sagte nichts. Er sah aus wie festgehalten auf einer Daguerreotypie aus jener Zeit, als die Menschen noch Ehrfurcht vor ihrer plötzlichen Verewigung hatten: weißes Gesicht,
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