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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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abzugleichen. »Das ist doch nicht möglich, das ist sie doch!«
    Er meinte die Stute, die sich, durch die Begegnung abgelenkt, entspannt hatte. Er streichelte sie, sie schnappte nach einem Knopf an seinem Mantel. »Aber das ist nicht möglich, obwohl ich schwören könnte …!«
    Er zuckte mit den Achseln, zog seine Handschuhe aus, steckte sie in eine Innentasche, machte alle Knöpfe wieder zu, bon . »Du bist hübscher geworden.« Aber er schien der Sache nicht ganz zu trauen. »Der Aufenthalt hier hat dir doch gutgetan, oder?«
    Ich nickte, dachte für einen Moment, er sähe etwas. Viele Mütter lesen es vom Gesicht ihrer Tochter ab, wenn es passiert ist, doch er war ein Mann, er preßte die Lippen zusammen und suchte an der Fassade meiner Unterkunft nach einem Menetekel.
    »Wo ist der Herr des Hauses?«
    Ich erklärte ihm, was an diesem Morgen passiert war. Er hörte kurz zu als Arzt und nickte mit einem Blick zur Seite: »Spannungspneumathorax, die Luft konnte aus der Pleurahöhle nicht mehr entweichen. Wahrscheinlich keine tiefe Perforation, sonst wäre es sofort vorbei gewesen, ich fürchte, ich hätte auch wenig tun können.« Danach kam der Vater zum Vorschein: »Bring das blöde Pferd auf die Weide und zeig mir auf der Stelle, was hier passiert ist, verdammt noch mal.«
    Kurz darauf fand ich ihn in der Diele, nervös, vor der Tür zu Egons Flur. Vielleicht lag es ja in der Familie, dieses Schnüffeln in anderer Leute Sachen. Er zog die Handzurück und steckte sie verstohlen in seine Tasche, als hätte er etwas darin, was nicht ihm gehörte.
    »Diese antiken Waffen, ließ er euch damit spielen?«
    »Natürlich nicht. Sie hingen an der Wand, als Dekoration.«
    Er nickte wie beiläufig in Richtung Tür. »Dahinter ist der Salon?«
    »Wir haben keinen Salon, wir sitzen immer in der Küche.«
    Die Küche interessierte ihn nicht, da war er bereits gewesen, da hatte er zwei Hunde vorgefunden, und Hunde mochte er nicht. Er seufzte, ich zeigte mich nicht kooperativ. »Was ist denn dann dahinter?«
    »Von Böttichers Zimmer.«
    Er federte hin und her zwischen Höflichkeit und Neugier, natürlich siegte letztere, das sah ich an dem verwegenen Lächeln um seine Lippen, das ihn hübsch machte, jung. Rührung für seine Eltern zu empfinden ist gewiß ein Zeichen von Erwachsensein.
    »Möchtest du es sehen? Viel macht es nicht mehr her, seit er alles aufgeräumt hat. Vorher war es viel gemütlicher.«
    »Was hat er aufgeräumt?«
    »Vor zehn Tagen gab es hier auf einmal ein Großreinemachen im ganzen Haus. Er kam aus Amsterdam zurück und meinte, alles, was keinen klaren Nutzen hat, muß verbrannt oder weggeworfen werden. Die Wände wurden neu tapeziert und die Türen gestrichen. Wir hatten ganz schön zu tun.«
    Sein Blick wurde jetzt sehr besorgt. Er starrte auf die schneeweiß lackierten Fenster im Flur, und ich wußte, was er dachte, er dachte, das Haus sähe jetzt aus wie ein Sanatorium, mit einem Garten wie der Hof eines Gefängnisses. »Großer Gott«, flüsterte er. »Ich hab dich einem Verrückten ausgeliefert.«
    In Egons Zimmer warf ich rasch die Überdecke übers Bett. Mein Vater sah es, ich wußte nicht, was ihm durch den Kopf ging. Er starrte schweigend auf den Samt, dann drehte er sich zum Schreibtisch um. Trotz allem lag da noch immer der Stich, aber auch die Bleistifte, drei Stück, scharf gespitzt, in gleichem Abstand zueinander, der Zirkel genau darunter, der Block in der linken Ecke und der Radiergummi zwischen den Linien des Papiers. Er lächelte kurz, als er den Stich sah, begann dann aber wieder, so heimlich zu flüstern.
    »Vielleicht hätte ich ihn nicht auf Thibault aufmerksam machen sollen. Ich hatte gehofft, ihm damit eine defensive Haltung beizubringen. Jetzt sehe ich, er ist wieder in seine alte Neurose zurückgefallen. Ich muß dir erklären, was ich damit meine.«
    Und er erklärte mir, was ich bereits wußte, nämlich daß Egon an einer zwanghaften Ordnungssucht gelitten habe, daß er das damals als natürliche Begleiterscheinung eines Kriegstraumas gedeutet, allerdings nichts darüber in der Literatur gefunden habe, auch nicht als die Veröffentlichungen über das Shellshock-Syndrom erschienen. Egon habe nicht gezittert, in seinen Augen habe kein thousand yard stare gebrannt, es habe lediglich eine kurze Zeit der Dissoziation gegeben, und anschließend, nachdem er sich selbst wiedererkannte, habe dieses Ordnen begonnen. Immer nur dieses Ordnen, bis sie Abschied voneinander nahmen, sogar
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