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Schuechtern

Schuechtern

Titel: Schuechtern
Autoren: Florian Werner
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Liebesgrüße aus Tonga       Es ist, als lastete auf dem Telefon ein böser Zauber. Als hätte ein polynesischer Stammeshäuptling über dem Apparat ein Tabu verhängt, das nur für mich bestimmt ist und das es mir unmöglich macht, den Hörer aufzunehmen und ein Telefonat zu führen. Selbst die harmlosesten Gespräche – mit meinem Steuerberater, mit der Hausverwaltung, einem Handwerker − stellen eine schier unüberwindliche Herausforderung dar. Natürlich schiebe ich solche Telefonate so lange wie möglich hinaus, wodurch die emotionale Last, die auf dem Gespräch liegt, immer größer wird. Erst wenn das Telefonat, meist bereits seit Wochen, unvermeidlich geworden ist, greife ich nach qualvollem Um-das-Telefon-Herumtigern und so ausführlichem wie skeptischem Betrachten des Apparats nach dem Hörer und wähle schnell, bevor ich einen Rückzieher machen kann, die fragliche Nummer.
    Das Tuten am anderen Ende der Leitung ist erschreckend laut, wie das Klopfen an eine Grabkammer, das die Totenruhe eines bösen Geistes stören könnte, oder doch immerhin die Mittagspause eines Steuerberaters, Hausverwalters, Handwerkers. Ich wandere weiter durch die Wohnung, als könnte ich dadurch vor dem Telefonat davonlaufen, und fange an zu zählen. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Fünf ist die Grenze, die Erlösung. Wenn sich nach fünfmaligem Klingeln niemand gemeldet hat, lege ich den Hörer schnell wieder auf, zugleich beruhigt, meiner Pflicht genüge getan, und beglückt, mit niemandem gesprochen zu haben.
    Zugegeben: Rational nachvollziehbar ist dieses Verhalten nicht. Es ist durchaus schon vorgekommen, dass der oder die Angerufene das Gespräch innerhalb der ersten fünf Freizeichen entgegennahm, und ich bin erstaunlicherweise immer noch am Leben. Keine Flammen schlugen aus dem Hörer, um meinen Gehörgang zu versengen, keine Hand griff durch die Leitung, um mir den Kopf abzureißen. Wider Erwarten war ich häufig in der Lage, vollständige Sätze zu bilden, ich wurde nur selten beschimpft, oft genug war mein Gesprächspartner sogar richtig freundlich. Dennoch packt mich immer wieder diese rasende Angst vor dem Telefon. Daher meine Vermutung, dass ein polynesischer Häuptling, von mir unbemerkt, hin und wieder meiner Wohnung einen Besuch abstattet und meinen Telefonapparat mit einem Abwehrzauber belegt. Auch an anderen Orten treibt er sich herum und macht mir das Leben schwer: Ansammlungen fremder Menschen, städtische Behörden, Läden mit persönlicher Kundenbetreuung – sie alle sind für mich, wie man auf Tonganisch sagt, tabu , oder zu Deutsch: ‹verboten›. Das ist meine privatmythologische Erklärung dafür, weshalb mir der Umgang mit fremden Menschen so schwer fällt. Die allgemein geläufige Beschreibung meines Problems ist weitaus profaner, dafür aber auch weniger anschaulich: Ich bin ganz einfach schüchtern.
    Ja, ich bin schüchtern, und es liegt in der Natur der Sache, dass mich selbst ein solch unspektakuläres Bekenntnis einige Überwindung kostet. Mit einem mir unbekannten Menschen ein längeres Gespräch zu führen, womöglich mit Blickkontakt, womöglich ohne Alkoholeinfluss, fällt mir unsagbar schwer. Wenn mich jemand auf der Straße anrempelt, entschuldige ich mich natürlich. Wenn ich das Gefühl habe, beobachtet zu werden, etwa in einer Straßenbahn oder einem Café, weiß ich nicht, wo ich hinschauen soll; zum Glück gucke ich aber meist sowieso auf den Boden, wo die Gefahr, dem Blick eines anderen Menschen zu begegnen, relativ gering ist, außer auf der Liegewiese eines Freibads oder am Strand, zwei Orte, die für Schüchterne allerdings noch ganz andere Probleme bereithalten. Meine Pullover haben fast alle eine Kapuze, unter der ich mich gegebenenfalls verstecken kann, und der Gott des Haarausfalls hat mir frühzeitig eine Glatze beschert, so dass ich bei jeder Jahreszeit eine Entschuldigung dafür habe, eine Mütze oder einen Hut zu tragen. Beim Schlafen ziehe ich immer die Bettdecke über den Kopf, weil ich Angst habe, dass ich von Geistern oder Einbrechern angesprochen werden könnte. Mein Kleiderschrank quillt über von Hosen und Hemden, die ich nur gekauft habe, weil ich nach einem längeren Verkaufsgespräch nicht in der Lage bin, einen Laden ohne Ware in der Hand zu verlassen; alles andere würde mir wie ein Affront gegen den Verkäufer erscheinen, der sich doch solche Mühe gegeben oder mir zumindest nichts Böses getan hat. Telefongespräche, die nicht absolut notwendig sind,
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