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Die neue Historia des Dr. Faustus 03 - Die Engelskrieger

Die neue Historia des Dr. Faustus 03 - Die Engelskrieger

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 03 - Die Engelskrieger
Autoren: Kai Meyer
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war einer der Einfälle des Meisters gewesen, natürlich. Auf der Durchreise wollte er in Venedig Station machen, um in einem geheimen Laden im Sestiere San Polo eine Reihe mysteriöser Ingredienzen zu besorgen. Ein wahrlich überwältigender Vorschlag – wurden wir doch, kaum dass wir unsere Gondel verlassen hatten, in Ketten gelegt und in die Kerker des Dogenpalastes verschleppt. Man sperrte uns in eine Zelle unter den Bleidächern des Palastes, eines der gefürchtetsten Gefängnisse weit und breit. Eng, niedrig, im Sommer von drückender Hitze und im Winter eine Eishölle, gab es kaum einen Ort, der die Menschen schon bei der schieren Erwähnung derart schaudern ließ. Aus den Bleikammern des Dogen gab es kein Entkommen, jeder wusste das, und man vermag sich vorzustellen, wie es um unsere Stimmung stand.
    Die Zelle war mit Holz ausgekleidet, das einzige Fenster vergittert. Die bleierne Dachschräge über unseren Köpfen hätte um diese Jahreszeit eigentlich heiß sein müssen wie eine Ofenplatte, erhitzt von den Strahlen der Sonne, die gnadenlos auf die riesige Bleifläche herabbrannte. Doch statt Hitze herrschte dort draußen klirrende Kälte, und das bereits einen ganzen Tag lang. Der Wetterumschwung war so plötzlich wie sonderbar gewesen, und der peitschende Hagel beschwor Visionen vom Untergang der Welt herauf.
    Faustus nahm auch dies äußerlich gelassen hin, obwohl ich ihm ansah, dass er insgeheim ebenso beunruhigt war wie ich selbst. Er ging langsam und nachdenklich in der Zelle auf und ab. Immer wieder musste er dabei den Kopf einziehen, denn mein Meister war ein großer Mann, höher gewachsen als die meisten, die ich kannte. Er trug seinen langen schwarzen Mantel, und schwarz war auch sein langes Haar. Die meisten, die von ihm gehört hatten, hielten ihn für einen alten Mann; umso erstaunter waren sie, wenn sie ihm begegneten, denn Faustus zählte schwerlich mehr als fünfunddreißig Jahre. Sein langes, schmales Gesicht war schneeweiß. Eine ungesunde Erscheinung, zweifellos. Aber sein Körper war gesund und flink, und sein Geist … ich muss wohl kaum von seinem Geist sprechen. Bei allen Missgeschicken, die ihm im Verlauf seiner Versuche passierten, konnte es doch kein Verstand mit dem seinen aufnehmen. Schon früh war ich zu dem Schluss gekommen, dass es nicht sein Pakt mit überirdischen Mächten war, den die Herrschenden und vor allem die Kirche fürchteten, sondern vielmehr die Klugheit und Weisheit, mit der er seine seltsamen Ziele verfolgte.
    »Hagel«, murmelte er leise und gewiss nicht zum ersten Mal, seit das Trommeln auf den Bleidächern eingesetzt hatte. »Hagel um diese Jahreszeit. Ein Rätsel, ganz zweifellos.«
    Angelina, die mir gegenüber am Boden saß, mit angezogenen Knien, den Rücken gegen die Holzwand gelehnt, verdrehte die Augen. Sie waren von einem strahlenden Hellblau und, neben ihren Lippen, die einzigen Teile ihres Gesichts, die nicht von den Flammen verstümmelt worden waren. Ihr haarloser Kopf war von Brandnarben überzogen, nach all den Monden nicht mehr ganz so dunkel und schuppig wie damals, als wir ihr erstmals begegnet waren. Ihre Ledermaske hatte sie abgenommen und an ihrem Gürtel befestigt. Sie trug ein helles Leinenhemd, darunter enge Reithosen und Stiefel.
    »Mit Verlaub, Meister«, sagte ich, »aber sollten wir uns nicht lieber die Frage stellen, wie wir hier wieder herauskommen?«
    Faustus blieb stehen und schaute mich an, fast ein wenig verwirrt, so als hätte ich ihn aus tiefen Gedanken gerissen. »Es hagelt, Wagner! Das ist ein Geheimnis, das sich zu lösen lohnt.«
    »Wir werden nicht viel Freude an der Lösung haben, wenn uns erst die Inquisition in die Mangel nimmt.« Als man uns hier heraufgebracht hatte, waren wir am Eingang der Folterkammer vorbeigegangen. Faustus mochte dem keine allzu große Bedeutung beimessen, aber mir schlotterten schon die Knie beim bloßen Gedanken an glühende Stahlzangen und Streckbänke, an ausgerissene Fußnägel und zertrümmerte Zähne.
    »Hagel im Sommer ist immer ein Zeichen von etwas Übernatürlichem, Wagner«, erklärte Faustus im Tonfall eines Scholaren. Er liebte es, in den unpassendsten Momenten über die abwegigsten Themen zu dozieren. »Ich wüsste zu gerne, wie groß die Hagelkörner sind.« Damit wirbelte er herum und eilte mit zwei raschen Schritten ans Zellenfenster, presste das Gesicht an die Gitterstäbe und versuchte, einen guten Blick nach draußen zu erhaschen. Nach einem Moment wandte er sich wieder um
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