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Die narzisstische Gesellschaft

Die narzisstische Gesellschaft

Titel: Die narzisstische Gesellschaft
Autoren: Hans-Joachim Maaz
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Wahrheit unserer gemeinsamen tragischen Bindung an unsere Mutter und den Rollen, die sie uns beiden im Verborgenen zugewiesen hatte, geschuldet war. Auf der einen Seite mein älterer Bruder, der sich fast schon talentiert mit seinen Lügen und Täuschungen gegen die autoritären Begrenzungen unserer Eltern stellte und mit dieser Art von Rebellion nur den verdeckten Machtwillen unserer Mutter und ihre unterdrückten Aggressionen widerspiegelte. Auf der anderen Seite ich, der zum Bediener verurteilt, im ständigen Abspüren des emotionalen Klimas in unserer Familie diplomatisch, ausgleichend agieren musste und mit diesem Verhalten stellvertretend nur die verdrängte Bedürftigkeit meiner Mutter und ihre nach außen gelebte märtyrerische, verlogene Selbstaufopferung spiegelte.
    Diese Rollen standen für eine elementare Beeinflussung durch unsere Mutter von Anbeginn unserer Existenz. Entgegen unseren Bedürfnissen hatte sie uns zu einem Teil ihrer inneren Realität gemacht. Alles, was ich über die Lebensgeschichte meiner Mutter weiß und wie ich sie aus meiner heutigen Sicht rückblickend erlebe, deutet darauf hin, dass auch sie eine Frühbedrohte war. Als solche wurde sie im Zeitgeschehen zu einer verführten, aber auch willigen Teilhaberin an der narzisstisch-bösartigen Ideologie einer Gesellschaft, von der Gewalttätigkeit und Krieg ungeheuren Ausmaßes ausgingen. Der Zusammenbruch des verbrecherischen Systems führte nicht zur ehrlichen, geschweige denn fühlenden Aufarbeitung. So wie viele Menschen der damaligen Zeit flüchtete auch meine Mutter in eine depressive Opferhaltung, die Schuld und Scham angesichts eigener Defizite und der Verantwortung für entstandenes Leid verleugnete und verdrängte. Mein Bruder und ich wurden aus dieser Energie der Herz- und Lieblosigkeit heraus gezeugt und geboren. Mit den zugemuteten frühen Bedrohungserfahrungen und der zugewiesenen Rolle hat uns unsere Mutter abschließend zu Erben ihrer eigenen Ohnmacht und ihres narzisstischen Widerstandes gegen die Liebe werden lassen; vielleicht sogar bis hin zur Veranlagung für einen Herzinfarkt.
    Mein Bruder und ich werden die Reichweite der Beeinflussung durch unsere Mutter in ihrer tragischen Ausprägung für unser Leben niemals ganz erfassen können. Darauf kommt es im Grunde auch nicht mehr an. Das gilt ebenso für die fiktive Frage, ob ich meinen Herzinfarkt herausgefordert habe oder ihm entgegengegangen bin. Denn je länger und intensiver ich mich mit den möglichen Hintergründen meines Infarktes beschäftigte und damit wieder in Gefahr geriet, narzisstisch nach einer möglichst erträglichen progressiven Erklärung zu suchen, umso mehr konfrontierte ich mich auch mit der begrenzenden Realität meines Krankseins, meines Alterns, des jederzeit möglichen Todes und der Unerreichbarkeit meiner illusionären Wünsche und Ziele, die ich insgeheim immer noch an meinem Leben festmachte. Langsam gewann die Erkenntnis in mir Raum, dass aus ganzheitlich-dynamischer Sicht längst vollendete Tatsachen eingetreten waren. Nur durch einen künstlichen Eingriff lebte ich noch oder waren mir schwere Beeinträchtigungen erspart geblieben. Mein innerer Widerstand gegen den Fluss des lebendigen Lebens hatte im Grunde längst obsiegt. Durch den Umstand, dass ich meinen Infarkt überlebt hatte, gewährte mir das Schicksal nur einen letzten Zeitaufschub, eine Galgenfrist, um mir der Illusion und Zerbrechlichkeit meiner narzisstischen Größenphantasien endgültig bewusst zu werden.
    Ein Innehalten erfasste mich, getragen von einer demütigen Einstellung gegenüber meiner unabänderlichen Realität. Begrenzendes und Befreiendes standen in dem, wie ich in diesen Momenten fühlte, gleichberechtigt und wie versöhnt nebeneinander. Es schien, als sei ich mit allem verbunden, als träfen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Punkt aufeinander. In den Momenten des Innehaltens verlor die Galgenfrist das Bedrohliche des Unentrinnbaren, weil es eingeschlossen und akzeptiert war.

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Impressum
    2., durchgesehene Auflage. 2012
    © Verlag C.H.Beck oHG, München 2012
    Umschlaggestaltung: Victor Malsy, malsyteufel, Willich
    Umschlagabbildung: © izo / Shutterstock
    ISBN Buch 978 3 406 64041 4
    ISBN eBook 978 3 406 64042 1
     
     
    Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website www.chbeck.de .
    Dort finden Sie auch unser gesamtes Programm und viele weitere Informationen.
    ISBN 978-3-406-64042-1
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