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Die narzisstische Gesellschaft

Die narzisstische Gesellschaft

Titel: Die narzisstische Gesellschaft
Autoren: Hans-Joachim Maaz
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Schmerz in seiner Brust. Ein Eiskristall löst sich aus seinem verhärteten Herzen und schmilzt. Sein Herz wird weich, und er muss, als er Gerda nun wiedererkennt, bitterlich weinen.
    Die Szene aus dem Märchen war wie eine Metapher, die sich erschreckend und erlösend zugleich auf meine innere Situation, mein jahrelanges Bemühen um Selbsterfahrung und auf mein Leben insgesamt übertragen ließ. Die einst von mir selbst zu meiner Verteidigung gegen Lieblosigkeit und Todesbedrohung errichteten inneren Barrikaden hatten sich zu einem tief gestaffelten System narzisstischer Abwehrkräfte und damit zu undurchdringlichen Gefängnismauern für mein Herz entwickelt. Seitdem war es nicht mehr offen für die Liebe. Es blieben nur Sehnsucht nach und Angst vor Liebe. Die über Jahrzehnte langsam fortschreitende Verkalkung und Verengung der koronaren Gefäße behinderten den freien, energiespendenden Blutfluss zu meinem Herzen und standen im übertragenen Sinne für meinen narzisstischen Widerstand gegen den Fluss des lebendigen, liebenden Lebens. Mein «sich verhärtendes» Herz geriet so zunehmend in Gefahr, im Infarkt zu zerbrechen. Dies hätte den Tod bedeutet und den lebensfremden Widerstand, man könnte beinahe sagen: vernünftigerweise, für immer beendet. Die Mauer aus Kalk und Allmacht, die mein Herz umschloss und verhärtet hatte, musste gleich in doppelter Hinsicht durchbrochen werden. Die mechanisch-gewaltsame Öffnung meiner Gefäße sorgte dafür, dass das biologische System meines Körpers weiter funktionierte. Und nur die Gewalt der dabei erlebten tödlichen Bedrohung vermochte es, die Mauer der narzisstischen Abwehr zu durchbrechen und sie wenigstens für kurze Zeit für jene frühen Gefühle zu öffnen, die allein in der Lage waren, das mein Herz umschließende Eis schmelzen zu lassen – so wie es Kai im Märchen, wenn auch auf sanftere Weise, durch die Umarmung seiner Freundin erfahren hatte.
    Eine Zeitlang hat mich die Frage beschäftigt, ob ich den Infarkt mit meinem jahrelangen Bemühen um Entwicklung nicht geradezu herausgefordert hatte oder ihm sogar im positiven, entschärfenden Sinne entgegengegangen war. Ohne dass ich mir dessen gleich bewusst war, unterstellte diese Frage indirekt, dass der Herzinfarkt schon immer, von Anbeginn meiner Existenz, in meinem Innern angelegt war. Dies korrespondierte immerhin mit der «genetischen Veranlagung», die mir Kardiologen wegen der bei mir fehlenden Risikofaktoren wie Rauchen, Übergewicht, mangelnde Bewegung etc. als Ursache anboten. Die Lebensgeschichte meines älteren Bruders drängte sich als Parallele auf. Er hatte schon mit 50 einen sehr schweren Herzinfarkt erlitten. Und bei genauerem Hinsehen gab es auch in unseren frühen Erfahrungen Parallelen.
    Ebenso wie ich wurde er, vier Jahre zuvor, 1944 , in eine schwierige Zeit geboren. Unsere Eltern hatten im November 1943 während eines kurzen Fronturlaubs meines Vaters geheiratet. Nach dem, was mein Vater von der Ostfront berichtete, glaubten die Soldaten schon zu dieser Zeit nicht mehr an den von der offiziellen Propaganda immer wieder beschworenen «Endsieg» der Wehrmacht. Trotz der bedrohlichen Ungewissheit, ob mein Vater heil aus dem Krieg zurückkehren würde, riskierte meine Mutter, aus welchen Gründen auch immer, die Schwangerschaft. Im Geschehen der Vertreibung im Frühjahr/Sommer 1945 war er mit realer Lebensbedrohung und wahrscheinlich ähnlicher elementarer Angst konfrontiert, wie sie dann auch ich als Zweijähriger erleiden musste. Ich bin mir sicher, dass diese Erfahrungen bei ihm zu einer ebenso tragischen Mutterbindung geführt haben.
    Die Beziehung zwischen meinem älteren Bruder und mir war von Kindheit an wechselhaft und schwierig. Seit dem Tod unserer Eltern ist der Kontakt zwischen uns völlig abgebrochen. Doch hat sich unabhängig von unserer äußeren Beziehungssituation in meinem Herzen schon immer ein Gefühl besonderer Verbundenheit mit ihm gehalten, ohne dass ich diese näher erklären konnte. Je mehr ich mich nun mit diesem Gefühl auseinandersetzte, desto mehr musste ich mir eingestehen, dass ich diese Verbundenheit eher wie ein Schuldgefühl erlebte, als trüge ich eine grundsätzliche Mitverantwortung an seinem Leid und daran, dass er in unserer Familie als «schwarzes Schaf» ständiger Kritik, ewiger Nörgelei wie auch Gewalt unserer Eltern, insbesondere unseres Vaters, ausgesetzt war. Erstmals kam mir die Ahnung, dass die diffus gefühlte Verbindung zu meinem Bruder in
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