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Die narzisstische Gesellschaft

Die narzisstische Gesellschaft

Titel: Die narzisstische Gesellschaft
Autoren: Hans-Joachim Maaz
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neutraler Moderator regelt den gruppendynamischen Prozess, bis eine Konsensentscheidung möglich wird. Der Expertenrat ersetzt das Kabinett, die Mitglieder werden direkt vom Volk gewählt, sie arbeiten unabhängig und ehrenamtlich, nur dem jeweiligen Erkenntnisstand ihres Fachgebietes und ihren Erfahrungen verpflichtet.
    Kompromisse, Schlichtung, Mediation und Konfliktlösung stehen im Mittelpunkt des Prozesses der Entscheidungsfindung. Sachverstand und psychische Reife (gesunder Narzissmus), nicht Machtinteressen und Parteizugehörigkeit bilden seine Basis.
    Mit der «Piratenpartei» könnte sich etwas von dieser Vision – vielleicht auch nur auf kurze Zeit – realisieren, bis die Protestler wieder – wie ehemals die «Grünen» – auf dem Boden der herrschenden Realpolitik «angekommen» sein werden. Aber vielleicht bleiben sie noch einige Zeit heilsam «chaotisch» auf der Suche und lassen sich nicht so schnell mit dem Vorwurf, nicht «regierungsfähig» zu sein, in ein narzisstisches Kränkungskorsett zwängen. Sie sind erfolgreich, weil sie noch kein Programm und keine Antworten auf jedes einzelne Problem unserer Zeit haben. Sie werden getragen von der Politikverdrossenheit, von der Suche nach einer Politik und Lebensform, die noch keine Formen angenommen hat. Das ist ihre große Chance: Unzufriedenheit zu formulieren, Fragen aufzuwerfen, zum Nachdenken anzuregen, Irritationen auszulösen, kreative Beunruhigung und kritische Nachfragen zu provozieren – und gerade nicht, wie alle anderen, angesichts ungelöster, komplexer und unüberschaubarer Prozesse Phrasen zu dreschen und Entscheidungssicherheit vorzutäuschen.
    Mit den «Piraten» könnte das Internet wahrhaftig zu einer neuen demokratischen Plattform werden, die eine breite Diskussion und Reflexion ermöglicht und die Parteienkungelei der «repräsentativen Demokratie» mit ihren narzisstischen Kämpfen entlarvt. So zu tun, als wisse man genau Bescheid, habe alles im Griff und würde das einzig Richtige tun, ist ein typisches Verhalten narzisstischer Störung und im bisherigen Politikbetrieb unverzichtbar. Dagegen böte die breite – massenwirksame – Diskussion eine große Chance, Befindlichkeiten wie Ängste, Zweifel, Hilflosigkeit und Ohnmachtsgefühle, aber auch Visionen, utopische Ideen und ungewöhnliche Wege einzubringen und zu diskutieren. Danach fielen der Parteiführung der «Piraten» vor allem Aufgaben der Moderation, der Zusammenfassung, Verdichtung und Strukturierung der Themen, Erfahrungen und Erkenntnisse zu, mit der Pointe, dass nicht mehr Personen Exponenten inhaltlicher Programme wären und damit der narzisstische Personenkult ein Ende fände.
    Ich setze darauf, dass das kritische Potential, das sich zurzeit in der «Piratenpartei» kanalisiert und auch Nichtwähler wiederbelebt, eine heilsame Beunruhigung über unseren Politikbetrieb und unsere Lebensform bewirkt und neue kreative Wege beschreitet, die auf narzissmuspflichtiges Getue verzichten.
    Solange jedoch die Ursachen früher seelischer Verletzungen von Kindern nicht wesentlich vermindert werden können, habe ich die Befürchtung, dass sich kollektiv-destruktive Fehlentwicklungen in immer neuen Formen wiederholen. Wenn wir die destruktiven Folgen der narzisstischen Problematik vermeiden wollen, müssen wir uns ernsthaft und engagiert folgenden Aufgaben zuwenden:
    Wir müssen einer Wachstumsideologie entkommen, die sich aus narzisstisch unbefriedigten Bedürfnissen speist. Dazu müssen wir «Wohlstand» und «Wachstum» nicht vorrangig materiell, sondern bezogen auf die Qualität und die Entwicklung unserer sozialen Beziehungen verstehen.
Wir müssen eine «Leistungsgesellschaft» verlassen, die der Kompensation seelischer Defizite dient. Dazu müssen wir «Leistungen» nicht vorrangig nach Geld- und Marktwerten beurteilen, sondern im Hinblick auf individuelle Möglichkeiten sowie soziale und ökologische Notwendigkeiten. Wir müssen lernen, natürliche Begrenzungen zu akzeptieren.
Wir dürfen Partnerschaft und Freundschaft, Liebe und Sexualität nicht vorrangig mit «Übertragungen» belasten, die aus unerfüllter narzisstischer Sehnsucht resultieren. Vielmehr sollen sie in einer «Beziehungskultur» gelebt und als befreiend und lustvoll erfahren werden können. Das ist nur auf der Grundlage ehrlicher Mitteilungen und eines offenen Gefühlsausdruckes möglich, mit dem das Mögliche gestaltet, Unterschiede verhandelt und Begrenzungen akzeptiert werden. Dazu bedarf es
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