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Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Titel: Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Autoren: Alexia Casale
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Beweisen und davon, wie sehr sie sich wünschen, dass das Justizwesen die Probleme berücksichtigen und nicht dem Opfer die ganze Beweislast aufbürden würde. Ist mir alles bekannt. Aber das macht es nicht weniger …«
    »Widerwärtig.«
    Das ist Onkel Ben. Und er klingt wirklich angewidert. Und wütend. Und frustriert.
    Ich packe das Geländer, setze mich langsam und vorsichtig auf die Treppe, presse Zähne und Lippen fest zusammen. Sie werden mir sicher alles erzählen – aber erst später, weil ich gerade erst operiert worden bin. Vielleicht wäre es besser, wenn ich meine Ohren verschließen würde. Aber dazu ist es zu spät. Sinnlos, jetzt in mein Zimmer zurückzukehren, denn ich kann nicht mehr so tun, als hätte ich nichts gehört. Ich bohre meine Fingernägel in die Handflächen. Das tut weh, und das tut gut und lenkt mich von den anderen Schmerzen ab: von dem Gefühl, dass meine Kehle wie zugeschnürt ist, von den heißen und kalten Schauern, die mich schütteln, als müsste ich gleich weinen.
    »Und diese vollkommen nutzlose Tusse vom Jugendamt! In diesem Fall müsste doch nun wirklich etwas zu machen sein. Die Operation und die Aussage der Ärztin – sind das etwa keine Beweise? Dr. Barstow war sogar bereit, einen Bericht über die Operation zu schreiben, aber diese miese kleine Ratte …«
    »Pst, Paul. Evie schläft«, unterbricht Amy ihn.
    Paul seufzt so tief, dass ich es sogar oben auf der Treppe hören kann. »Und da behauptet diese Kuh allen Ernstes, dass die späte Aufdeckung die Sache kompliziert – ist das zu fassen? Sind wir so schlechte Eltern? Wir sind mit Evie schon zum Arzt gegangen, da wussten wir noch gar nichts von alledem! Ich finde es unbegreiflich, dass das Jugendamt nicht umgehend eine ärztliche Untersuchung veranlasst hat, nachdem Evie von diesem kläglichen Zerrbild einer Mutter abgegeben worden war. Kinder müssen vor einer Adoption doch untersucht werden. Warum hat niemand gemerkt, dass sie mit einem kaputten Brustkorb herumgelaufen ist?«
    »Paul!« Amy klingt nicht strafend. Aber sie möchte nicht, dass er das sagt – dass er mehr sagt. Sie mag es nicht mehr hören. Und ich auch nicht. Beim Klang ihrer Stimme brennen Tränen tief in meinem Hals.
    Ich bekomme nicht mit, was sie als Nächstes sagen, denn ich schließe die Augen, krampfe die Hand um das Fläschchen mit dem Drachen und versuche, nur an ihn zu denken und alles andere zu verdrängen, die Schmerzen wegzuatmen, die mich erfüllen, als ich versuche, mich ganz steif zu machen, damit ich nicht zerbreche.
    »… vor allem wichtig, dass Evie jetzt die notwendige Hilfe bekommt. Ihr könnt beide stolz darauf sein, dass sie am Ende genug Vertrauen gefasst hat, um von ihren … Verletzungen zu erzählen.«
    »Ja, und das schon nach drei Jahren«, sagt Paul grimmig.
    Danach schweigen alle.
    Was soll ich dazu sagen? Es stimmt, dass ich es ihnen lange verschwiegen habe. Juristisch ist jetzt offenbar nichts mehr zu machen. Bald werden die Fäden gezogen, und dann gehe ich wieder zur Schule, und die Welt dreht sich weiter, denn das tut sie immer. Sie dreht sich sogar dann weiter, wenn es unmöglich sein müsste, wenn alles so unerträglich ist, dass man meint, nicht mehr weiterleben zu können. Aber das ist der Welt egal. Ein Herz hört nicht auf zu schlagen, auch wenn es nach menschlichem Ermessen eigentlich stillstehen müsste. Und der Mensch hört nicht auf zu atmen. Stattdessen stellt er fest, dass es immer noch Schlimmeres als das Unerträgliche gibt.
    Meine Zähne tun weh. Mein Hals tut weh. Meine Finger sind kalt, aber mein Gesicht glüht. Ich schließe die Augen, zwinge die Schmerzen nieder. Ich umklammere den Drachen, schlucke und atme, schlucke und atme. Früher oder später werde ich die Augen öffnen müssen, und dann werde ich merken, dass alles beim Alten ist. Dass die Welt nicht aufgehört hat, sich zu drehen, dass die Zeit nicht stillsteht. Denn die Zeit tickt, sie tickt immer weiter.
    Ich beiße die Zähne zusammen, während ich mich mit einer Hand am Geländer hochziehe, mich gebückt gegen das Zerren der Fäden stemme, gegen die Haut, die so straff ist, dass sie sich nicht dehnt, gegen den Schmerz an der Stelle, wo die Rippe fehlt, gegen den Schmerz von früher.
    »Diese Ungerechtigkeit kann doch nicht ewig weitergehen«, sagt Paul unvermittelt, und ich erstarre, halb aufgerichtet, halb gebückt. »Wie soll ich Evie erklären, dass sie keine Gerechtigkeit erwarten kann?«
    »Ich wage nicht, ihr zu
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