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Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Titel: Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Autoren: Alexia Casale
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hast.«
    »Ich habe gesagt, dass ich mir die Sache überlege«, fauche ich, denn wenn sie möchte, dass ich rede, muss sie es auch ertragen, wenn ich wütend werde. »Ich habe nie gesagt, dass ich hingehen will. Ich hatte die Sache total vergessen. Amy und Paul sind es, die so viel Aufhebens darum machen. Als Amy mir damals erzählt hat, dass Fioma gestorben ist, hat sie mich gebeten, mich erst mal hinzusetzen und so … Völliger Quatsch.« Miss Winters wartet darauf, dass ich fortfahre, aber ich mag ihr nicht gestehen, dass Amy zusammenzuckte, als ich darauf sagte, das sei gut.
    »Und im nächsten Jahr? Gehst du dann hin?«, fragt Miss Winters.
    Ich zucke mit der linken Schulter – ziehe sie langsam hoch. Ich bin die Fäden zwar los, spüre aber immer noch ein leichtes Brennen an der Seite, unter dem Arm. Ein richtiger Schmerz ist es nicht, aber es erinnert mich daran, dass ich noch eine Weile aufpassen muss. Aber das vage Gefühl, das mich so lange begleitet hat, das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, ist endlich weg – kein Echo mehr von gebrochenen Knochen, die sich verschieben und aneinanderreiben, von Bruchstellen, die nach oben und unten rutschen. Sehr ungewohnt, das nicht mehr zu spüren.
    »Ich fände das gut. Du musst das Grab ja nicht unbedingt am Todestag aufsuchen. Geh hin, wenn du in der Stimmung dazu bist. Ist ja nicht weit weg – nur ein paar Meilen.«
    Ich schaue wieder zum Fenster, brumme unentschlossen.
    »Befürchtest du, deinen … Fionas Eltern über den Weg zu laufen?«
    »Nein.«
    Miss Winters zupft weiter an dem losen Faden, direkt unter der Armlehne des Sessels: Sie zupft daran, wickelt ihn um einen Finger, streicht darüber, als wollte sie ihn in das Polster zurückdrücken.
    »Ich sehe nicht ein, warum. Ich schulde ihr gar nichts.«
    »Es gibt auch andere Gründe dafür, ein Grab zu besuchen, Evie«, erwidert Miss Winters mit sanfter Stimme. »Wir sagen ja nicht, dass du um ihretwillen hingehen sollst. Aber ich meine, dass es … hilfreich sein könnte. Für dich.« Sie will noch etwas sagen, hält dann aber inne, zieht ihre Hand von der Lehne und starrt den abgerissenen blauen Faden an. Sie spreizt die Finger. Der Faden segelt auf den Fußboden.
    »Ein Stein und irgendwelche Pflanzen sollen hilfreich sein? Wie das?«
    »Vielleicht auch nicht. Trotzdem: schadet sicher nicht, darüber nachzudenken.«
    Ich mag nicht darüber nachdenken. Ich will nicht wissen, was der Stein mir erzählt. Ob sie es gewagt haben, jene Worte zu verwenden – den üblichen Grabspruch, die Standardinschrift. Sie wurde nicht geliebt. Kein bisschen. Ich sehe blitzartig vor mir, wie meine Finger über die eingemeißelten Buchstaben gleiten, das »M« ertasten, das geschwungene »U«, den waagerechten Strich des »T«. Meine Fingernägel brechen, weil ich sie in den glatten Stein kralle.
    Ich schließe rasch die Augen, werfe den Kopf zur Seite, und das Bild verschwindet. Trotzdem würde ich die Daumen gern zu den Mittelfingern hinbiegen, Nagel unter Nagel schieben. Doch darunter sitzen weder Dreck noch Blut oder Marmorstaub. Meine Finger sind sauber und heil. Ich balle sie zur Faust und sehe zu, wie die Knöchel erbleichen.
    »Amy und ich haben gestern einen Spaziergang gemacht, um das Ziehen der Fäden zu feiern«, sage ich.
    Miss Winters erlaubt mir, die Richtung unseres Gesprächs zu ändern. Sie weiß genau, dass ich mir im Klaren darüber bin, sie nicht täuschen zu können, aber sie ist klug genug, mir dies nicht unter die Nase zu reiben.
    »Wir sind dem Treidelpfad gefolgt und haben die Schwäne gefüttert. Da gibt es einen schwarzen mit roten Augen. Und dann kam dieses Hausboot angefahren, und der Schwan ist ihm nachgeschwommen und hat dabei einen Krach gemacht wie die Dinosaurier in Jurassic Park . Auf dem Boot waren zwei kleine Mädchen, die kreischend zum Bug gerannt sind. Als der Schwan auf uns zukam, hat Amy alles Brot auf einmal ins Wasser geworfen, und danach sind wir zur Schleuse gegangen, haben uns hingesetzt und eine ganze Weile die Wolken betrachtet.«
    Miss Winters dreht ihren linken Fuß auf die Seite und reibt die Zehen an einem Sesselbein. Sie scheint das gar nicht zu merken.
    »Bei Fionas Eltern bin ich früher oft auf das Dach geklettert und habe die Wolken beobachtet … Und ich habe mir Geschichten dazu ausgedacht. Die von Roger war am schönsten. Roger war ein Fisch, der am Himmel schwamm. Er war auch mein Freund, und er verharrte immer über dem Haus und plauderte mit mir, wenn
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