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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme
Autoren: John Barnes
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wie dieses. Sie
läßt die Leute ihren Ekel spüren; wenn die
Technologie es uns schon ermöglicht, in den Gefühlen
anderer heute herumzuschnüffeln, dann sollen sie wenigstens
alles genießen, nicht wahr?
    Sie erreichen die oberste Plattform; wenn sie jetzt noch weiter
hinauf wollten, müßten sie die Hände zum Klettern
benutzen, und Carla sagt ihnen, daß sie hier stehen bleiben
sollen.
    Als Jesse und Mary Ann zurückblicken, sehen sie die
große Menge nahen. »Kennen wir überhaupt noch den
Namen von irgend jemand?« fragt sie. »In den ersten Tagen
waren es so viele, und ich fühlte mich – oh, ich weiß
nicht, ich fühlte mich eins mit ihnen. Natürlich
wußte ich, daß es nur eine Illusion war und daß ich
niemanden von ihnen kannte… aber ich spürte eine
Zugehörigkeit zu ihnen, und jetzt sehe ich sie wieder nur als
große, gesichtslose Dritte-Welt-Masse.«
    Jesse sieht sie von der Seite an. »Ich würde mich
wirklich freuen, Tomás hier zu treffen. Es würde mir
gefallen, das hier zusammen mit ihm anzuschauen, und
schließlich bin ich dir ja keine große Hilfe.«
    Mary Ann will gerade etwas erwidern, als Carla sich meldet.
»Geht ruhig weiter – wir werden euch schon
finden.«
    Jesse küßt sie, sehr zärtlich, aber auch sehr
flüchtig; er geht die Stufen hinunter und verschwindet in der
wogenden Menge aus weißen Hemden und weißen Anzügen,
die der Regen grau gefärbt hat. Einen langen Moment
verspürt Mary Ann ein Gefühl der Einsamkeit und würde
Jesse am liebsten nachgehen; sie läßt den Blick nach oben
und in die Ferne schweifen und sieht, wie die Menschen in langen
Schlangen an der Seite der Südlichen Pyramide hinaufsteigen und
sich zu großen Blöcken formieren, die immer heller werden,
je mehr weißgekleidete Menschen dazukommen. »Bald wird das
ganze Gelände weiß sein«, sagt sie.
    Nein, jeder Kopf und jedes Gesicht bilden einen dunklen
Fleck in der weißen Masse, siehst du? Und die Flecken
changieren, und du siehst, daß jeder Mensch seine eigene Art
hat, zu gehen. Die Menschen verschwimmen nicht zu einer gesichtslosen
Masse, solange du sie unter diesem Aspekt betrachtest, sagt
Carlas Stimme in Mary Anns Kopf.
    Mary Ann seufzt. Sie kann sich des Eindrucks nicht erwehren,
daß sie nur als teure Komponente der XV-Technik vor Ort ist,
und obwohl es ihren Vorgesetzten ausnahmsweise einmal nicht auf ihre
Brüste, sondern auf ihren Kopf ankommt, ist es doch
dasselbe.
    Erstaunt registriert sie, daß sie Carla mit diesen
Überlegungen verletzt hat. Ich hoffe, es ist nicht unsere
Schuld, daß du dich so fühlst. Wir mögen dich sehr,
Mary Ann, und weißt du, wir wissen sehr viel über dich
– wir sind deine Akte in allen Einzelheiten durchgegangen,
einschließlich aller Transskripte, die Passionet über dich
angelegt hat. Niemand hat dich je besser gekannt, und wir haben dich
für diese Sache ausgewählt, weil wir mit dir am liebsten
gearbeitet haben.
    Nachdenklich läßt Mary Ann sich auf einem der
Steinblöcke nieder. Die Feuchtigkeit des kalten Steins dringt
durch ihre Hose, aber so naß, wie sie ohnehin schon ist, macht
das jetzt auch nichts mehr. Das Gefühl, benutzt zu werden, tritt
nun gegenüber dem Gefühl, in etwas viel Größerem
als einer Menschenmenge aufzugehen, in den Hintergrund. Egal, ob sie
selbst oder andere Personen es gewollt haben; hier steht sie nun, und
nur das zählt…
    Sie hört, wie Carla leise lacht und Louie darin einstimmt. Es
ist ein empathisches Lachen, denn plötzlich wird ihr
bewußt, daß wohl keiner von beiden freiwillig zu dem
geworden ist, was er jetzt ist… und es liegt etwas
Komödiantisches in der Tatsache, daß, nein, es stimmt
nicht, daß alles von ihr abhängt – wenn es heute
nicht funktioniert, dann harren noch viele andere Experimente ihrer
Durchführung, so daß es viel zu gewinnen, aber wenig zu
verlieren gibt; außer, daß es nach Ansicht der beiden die
Dramatik der Geschichte erhöhen würde, wenn es heute
geschähe, an dem Tag, an dem…
    Mein Gott. ›Clems‹ Auge wird in – wenigen Minuten
kollabieren. Die Super-Wirbelstürme verlieren den Kampf gegen
die Eis-Frisbees. Sind sie also deshalb hier? Um zu feiern?
    Zum Teil schon, räumt Louie ein. Wahrscheinlich
würden die Menschen sich freuen, wenn das der offizielle Grund
wäre. Aber sie sind auch hier, weil es ein guter Ort ist, weil
wir euch mögen und euch vertrauen, so daß dies uns als der
geeignete Ort und die richtige Zeit erschien, um es
durchzuführen.
    Die Menschenmenge ist
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