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Die Moselreise - Roman eines Kindes

Titel: Die Moselreise - Roman eines Kindes
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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sitzende Angst: Gegen die Angst, die Sprache wieder zu verlieren und damit wieder zurückzufallen in den stummen, zeitlosen Kosmos seiner frühen Jahre.
    Dagegen kämpft das Schreiben an, es erscheint wie eine leuchtende Schrift-Spur, die bezeugt, dass und wie »Zeit« sich gestaltet hat. Denn in den Spuren der Schrift ist das Vergehen, aber auch die Formung von »Zeit« ablesbar: so ist das gewesen …, dort bin ich gewesen … Indem das Kind in seine Kladden blickt und indem es sich an »Zeit« erinnert, entdeckt es seine eigene Geschichte. Als das Kind diese große Entdeckung macht, weiß es, dass es sich durch das Schreiben retten und am Leben erhalten kann. Es ist nun kein »stummer Idiot« mehr, der Raum und Zeit kaum erlebt, sondern es ist ein »Leser«, der Räume und Zeiten auf sich bezieht und ihre Wirkungen auf die Wahrnehmung protokolliert. So schafft sich das Kind seine ganz besonderen, selbst geschriebenen »Lese«- und »Lebensbücher«, und so entwirft es das »Archiv seines Lebens«.

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    Nach den Lesungen aus meinem Roman Die Erfindung des Lebens haben mich die Zuhörer oft gefragt, wie denn genau all die vielen Aufzeichnungen aussahen, die ich bereits als Kind gemacht habe. Die Notate der Moselreise , die sich im Folgenden an diese Vorbemerkungen hier anschließen, vermitteln davon einen guten Eindruck. Sie verfolgen eine fast zweiwöchige Wanderung, die ich als Elfjähriger im Sommer 1963 zusammen mit meinem Vater entlang der Mosel gemacht habe.
    Als wir uns damals in Köln in den Zug nach Koblenz setzten, hatte ich viele meiner kleinen Notizkladden, einen Haufen Blei- und Buntstifte, eine Schere, einen Papierkleber und einen Fotoapparat dabei. Schon während der Zugfahrt begann ich mit den ersten Notaten: Was hörte ich auf dem Bahnsteig? Wovon sprach der Vater? In welchem Buch las er so interessiert? Die Notate waren also Mitschriften all dessen, was gerade geschah, und sie enthielten sich fast jeden Kommentars. Ich wollte auffangen und festhalten, was um mich herum passierte, keineswegs aber wollte ich darüber schreiben, was ich empfand.
    Damals hatte ich schon einige Jahre täglich notiert und geschrieben, ich war darin also kein Anfänger mehr. So war es zu einer Gewohnheit geworden, während des Tages immer wieder Schreibpausen einzulegen und in diesen Schreibpausen rasch aufzuschreiben, was ich mir unbedingt merken wollte. Solche rasch gesammelten Notate bestanden
häufig aus Daten, Namen und anderen Fakten, die sich nicht selten zu kleinen Listen erweiterten.
    Zum anderen aber konnten solche Notate auch aus kleinen Schreibübungen bestehen, deren Themen ich mir selbst vorgab. Diese Schreibübungen kannte ich von den Spaziergängen mit meinem Vater her, denn während dieser Spaziergänge hatte mein Vater mir oft einfache Themen gestellt, zu denen ich ohne langes Nachdenken aufgeschrieben hatte, was mir durch den Kopf ging. Warum ich den Wald mag/ Womit ich am liebsten spiele - das waren zum Beispiel solche Themen, die ich mit nur wenigen Sätzen und im Umfang von höchstens einer Seite bearbeiten sollte.
    Die raschen Notate und die kleinen Schreibübungen ergaben zusammen mit den gesammelten Postkarten, Fotos und anderen Dokumenten am Ende der Reise ein dickes Konvolut von Notizzetteln und Aufzeichnungen, die ich nach meiner Rückkehr nach Köln in einen längeren, geschlossenen Text umzuschreiben begann. Die Notate benutzte ich als Vorlage zu einer Reiseerzählung, und die Schreibübungen integrierte ich in diese fortlaufende, chronologisch gestaltete Erzählung in der Form von kurzen Stationen. So entstand die Reise-Collage Die Moselreise : als fortlaufende Erzählung einer Reise von Vater und Sohn, aber auch als Stimmen-, Text- und Bilder-Collage des Landschaftsraums Mosel.

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    Dass Die Moselreise aber mehr war als nur eine schlichte Reiseerzählung, das ahnte ich als Kind nicht. Ich war stolz, so viel wie möglich von den Erlebnissen, Gesprächen und Orten der Reise festgehalten zu haben, aber ich wusste nicht, dass für einen erfahrenen Leser hinter der dokumentarischen Folie der Erzählung noch eine ganz andere Erzählung sichtbar wurde. Ich meine die Erzählung von Vater und Sohn, ja ich meine die Erzählung von ihrer engen Zusammengehörigkeit und von ihrer gegenseitigen starken Liebe und Achtung.
    Unaufhörlich gibt der Junge, der ich war, sich nämlich Mühe, dem Vater so nahe wie möglich zu sein und ihn, so gut es eben geht, zu verstehen. Jeder Bemerkung des Vaters geht er nach,
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