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Die Moselreise - Roman eines Kindes

Titel: Die Moselreise - Roman eines Kindes
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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jedem noch so kleinen Hinweis und Zeichen. All diese Hinweise und Zeichen werden aufgegriffen, genauer betrachtet und weiterverfolgt, so dass die Moselreise darüber zur Geschichte einer intensiven Annäherung an all die Welten wird, in denen der Vater zu Hause ist.
    Durch den Vergleich mit diesen Welten konstruiert der Junge seine eigenen Welten, ja man könnte sogar sagen, dass er sie genau wie der Vater abgrenzt, vermisst, beschriftet und für sich bewohnbar macht. Dadurch aber wird die Fremde zu einem Raum, der durch den vertrauten und immer selbstverständlicher werdenden Umgang mit dem Vater allmählich seine bedrohliche Fremdheit und Ferne verliert. Das Kind zieht die Welt während des Schreibens immer enger
an sich heran, und es lernt, sich in dieser fremden Welt immer freier und erfahrener zu bewegen.
    Es genügt dem Jungen aber nicht, durch den engen Umgang mit dem Vater die Erfahrung einer immer stärkeren Vertrautheit mit der Welt zu machen. Damit die Vertrautheit mit der Fremde sich herstellen kann, muss auch die Mutter in diese Vertrautheit einbezogen sein. So schreibt der Junge ihr an jedem Tag mehrere Postkarten mit kurzen Berichten, Fragen und Deklamationen. Diese Postkarten sind der Versuch, den Abstand zur zweiten, stark geliebten Elternfigur zu verringern und sie einzubinden in die Sphären von Vater und Sohn.
    Die Mutter nämlich ist (wegen einer schweren Herzkrankheit, die ein längeres Reisen unmöglich macht) zu Hause, in der Kölner Familienwohnung, geblieben. Jede Erinnerung an sie weckt das »Heimweh« und belebt die Sehnsucht nach baldiger Rückkehr. Um diese Sehnsucht auf ein zumindest erträgliches Maß zu verringern, bindet der Junge die Reise an Bilder der Mutter. Er erinnert sich an sie, er versucht sich vorzustellen, was sie gerade tut und womit sie beschäftigt ist. Lange Zeit gelingt es ihm, durch das Aufbieten all dieser Szenen und Erinnerungen so etwas wie ein nahes Mutter-Bild herzustellen und die damit verbundenen starken Empfindungen zu beruhigen.
    Mit dieser Beruhigung ist es jedoch vorbei, als der Junge während der Reise auf ein Klavier trifft und auf diesem Klavier spielt. Das Klavierspiel trägt ihn sofort und mit großer Wucht zurück in den Raum der Familienwohnung und vor allem zurück zur Mutter. Klavier spielen nämlich
hat der Junge bereits als stummes Kind von der damals noch ebenfalls stummen Mutter gelernt. Sie war seine erste Klavierlehrerin, und das Klavier war das erste Instrument, mit dessen Hilfe es dem Kind gelang, seine Gefühle auszudrücken und anderen zu vermitteln.
    Die Begegnung mit dem Klavier ist also in der Erzählung von der Moselreise der Moment der Krise: Vater und Sohn überlegen ernsthaft, nach Hause zurückzukehren. Damit wäre freilich ein Eingeständnis verbunden, das Eingeständnis nämlich, dass es sich außerhalb der Kölner Familienzelle kaum leben lässt. Instinktiv spürt das Kind, dass dieses Eingeständnis eine Niederlage bedeuten würde. Und so richtet es sich auf und kämpft gegen das »Heimweh« an.
    Die Moselreise wird dann doch fortgesetzt und führt sogar noch zu einem überraschenden, verblüffenden Schluss, der von heute aus beinahe wie ein novellistisches und damit kunstvolles Ende erscheint. Es ist ein Ende, in dem die Familientrias von Mutter, Vater und Sohn in durch die Reise veränderter Form wiedererscheint und in ihrer veränderten Erscheinung den Eindruck erweckt, ein neues, erweitertes Lebensprojekt für die gemeinsame Zukunft gefunden zu haben.

Die Moselreise
    Ein Reisetagebuch im Sommer 1963

24. Juli 1963

    Im Bahnhof
    Der Mann mit der roten Mütze
    Die Pfeife des Mannes mit der roten Mütze
    Der schrille Pfiff
    »Achtung, Achtung! Zug auf Gleis 1a fährt sofort ab! Bitte Vorsicht an der Bahnsteigkante!«
     
Im Zug
    Papa: Willst Du zum Fenster rausschauen, oder wollen wir Karten spielen?
    Ich: Ich möchte erst zum Fenster rausschauen und dann Karten spielen.
     
Blick aus dem Fenster
    Am liebsten würde ich laufend aussteigen: Jetzt, jetzt und wieder jetzt…

    Ich möchte mir alles genauer und länger anschauen, es geht viel zu schnell…
    Wenn ich aus dem Fenster schaue, schaue ich eine Weile auf einen Punkt, so fest und lange, bis er verschwunden ist, das hilft…
    Wir sind gegen zehn Uhr in Koblenz angekommen und haben unsere Rucksäcke und Taschen gleich in ein Schließfach gepackt, zum Glück gibt es in Koblenz genügend Schließfächer. Dann haben wir den Bahnhof verlassen und festgestellt, dass es in
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