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Die Moselreise - Roman eines Kindes

Titel: Die Moselreise - Roman eines Kindes
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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    Es ist 5.45 Uhr. Wann immer es möglich ist, stehe ich in der Frühe zu dieser Zeit auf. Ich mache mir einen Kaffee und nehme ihn mit in mein Arbeitszimmer. Spätestens gegen 6 Uhr sitze ich an meinem Schreibtisch und beginne zu schreiben. Ich schreibe mit der Hand, ich notiere in einen Tages-Kalender, wie der vorige Tag verlaufen ist, ich notiere, was ich erlebt, mit wem ich gesprochen oder worüber ich nachgedacht habe.
    Diese Notizen zum Verlauf des vorigen Tages werden später in ein großes Skizzenbuch kopiert. In dieses Skizzenbuch kommen dann noch weitere Aufzeichnungen, die ich am Tag zuvor während der unterschiedlichsten Tageszeiten in kleinen Notizheften, Notizbüchern oder auch nur auf losen Zetteln gemacht habe. Alle paar Stunden protokolliere ich, wo genau ich mich gerade aufhalte, oder ich notiere Stichworte zu meinen Lektüren, oder ich halte einfach nur fest, was ich als Nächstes vorhabe oder woran ich denke.
    Gleichzeitig sammle ich während eines Tages die unterschiedlichsten Dokumente: Ausschnitte aus Zeitschriften und Zeitungen, Post- und Eintrittskarten, Texte, zu denen ich bei der ersten Lektüre irgendeine Art von innerem
Bezug empfinde. Dann und wann fotografiere ich auch: Schnappschüsse von meinen Mahlzeiten, von Räumen, in denen ich mich bewege, von Menschen, denen ich begegne. Auch diese Dokumente kommen später in das großformatige Skizzenbuch, sie rahmen die schriftlichen Aufzeichnungen und ergänzen sie um Bilder, Zeichen und Hinweise.
    So entsteht Tag für Tag ein bunter Teppich aus Schriften und Bildern, es handelt sich um die Architektur eines Tages, um seine Komposition, um die Folge seiner Phasen, Erlebnisse und Atmosphären. Als Ganzes ergeben all diese Architekturen und Kompositionen ein großes Schreibprojekt, das Projekt meiner Tagesmitschriften, die sich von konventionellen Tagebüchern durch ihren protokollierenden Gestus stark unterscheiden. Ich resümiere nicht, ich verfolge nicht meine Emotionen und Stimmungen, stattdessen geht es um das Festhalten des Augenblicks, um die Moment-Skizze, um das flackernde Denken und Fühlen.
    Auf den ersten Blick könnte man denken, diesem großen Projekt liegt eine Art Schreibzwang zugrunde. Ich empfinde dieses tägliche Notieren und Schreiben aber nicht als einen unangenehmen oder sogar quälenden Zwang, das Schreiben »geschieht« vielmehr beinahe von selbst, wie nebenher, wie Essen und Trinken, wie Gehen und Sehen. Wenn ich, durch irgendeinen Umstand gezwungen, mit dem Schreiben aussetze, spüre ich das nach wenigen Stunden sofort. Ich werde unruhig, lustlos und streitbar, es ist, als litte ich unter einem Drogenentzug.
    Ich brauche das tägliche Notieren und Schreiben also lebensnotwendig, ich brauche es seit den frühen Kindertagen,
seither habe ich nicht aufgehört, Tag für Tag notierend und skizzierend zu schreiben. Inzwischen füllen meine täglichen Notate und Skizzen Tausende von schwarzen Kladden.

2
    Auf welch seltsame Weise dieses manische tägliche Schreiben in meinen frühen Kindertagen entstanden ist - davon handelt mein autobiographischer Roman Die Erfindung des Lebens . Ich erzähle dort von dem jungen Johannes Catt, meinem Alter Ego, der zusammen mit seiner Mutter in einer stummen Symbiose aufwächst. Vier Söhne hat die Mutter in Kriegs- und Nachkriegszeiten verloren, durch diesen Verlust ist sie mit der Zeit immer sprachloser und schließlich stumm geworden. In ihrer Hilflosigkeit klammert sie sich eng an den fünften Sohn, den jungen Johannes, der von seinem dritten Lebensjahr an ebenfalls immer sprachloser und schließlich auch stumm wird. Als er in die Volksschule kommt, wird das Leben für ihn unerträglich. Er lernt weder sprechen noch schreiben und wird schließlich von dem besorgten Vater aus der Schule genommen.
    Für einige Wochen geht der Vater mit dem hilflosen Kind auf das Land, dorthin, wo er selbst zusammen mit zehn Geschwistern aufgewachsen ist. In der weiten Natur rund um einen großen Bauernhof machen Vater und Sohn lange Spaziergänge und Wanderungen, und auf diesen Wegen lernt das stumme Kind allmählich zeichnen und schreiben.
    Von da an notiert es Tag für Tag, was es sieht und hört,
es notiert die jeweils neu gelernten Worte, es protokolliert Gespräche und Eindrücke, und es ergänzt all diese Aufzeichnungen um Fotos und allerhand Textmaterial, das es auf seinen Wegen irgendwo gefunden und aufgelesen hat. Durch dieses unermüdliche Aufschreiben und Notieren wehrt es sich gegen eine tief
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