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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Stangl
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I
(Stadt, 4. Februar 2000 und später)
    Also gut, es geht nicht anders, beginnen wir mit den Bildern. Was sind schon Bilder: Formen auf Papier oder Bildschirmen, Licht, versteckte Magie.
    Es konnte kein Zufall sein, dass er die Filmdosen fand. Nicht, dass er einen offenkundigen Sinn darin sah oder etwas Ähnliches erwartet hatte, aber er nahm sie bedenkenlos an sich, ruhig, ohne Hast und Aufregung, erst im Nachhinein erfasste ihn eine Art von Erregung, eine Art von Glück: als hätte er schon gesehen, was die Fotos für ihn (für irgendeinen, aber jetzt nur mehr für ihn) bereithielten, einen ganzen Film, in den er umsteigen könnte wie in eine parallele, auf Zelluloidstreifen festgehaltene Existenz.
    Zu dieser Zeit hatte Doktor Steiner (wie er zuweilen auch für sich selbst hieß) gerade erst wieder begonnen, ziellos durch die Stadt zu laufen; wie vor Jahrzehnten, als er noch Geheimnisse und kleine Wunder hinter jeder Ecke, in jedem Schaufenster, in jedem Lokal, jedem Lächeln einer Frau, jeder Betrun-kenheit, jedem betrunkenen Monolog eines Unbekannten, jeder Ausstellung und jedem Buch erwartet hatte. Er hatte nun wieder Zeit, die Tage wurden immer kürzer, aber jeder einzelne schien ihm doch zu lang; er ließ sein Auto (nun ja, ein Mercedes) in der Garage stehen, steckte die Hände in die Taschen seines Sakkos und stieg bei der nächsten Station (Rossauer Lände oder Friedensbrücke) in die U-Bahn, auch wenn es (leider) nicht Paris war, man konnte lange Zeit kreuz und quer und hin und zurück durch die Stadt fahren, ohne den Untergrund zu verlassen, irgendwann entschied er sich dazu aufzutauchen, ganz unvermittelt, am liebsten in einem Stadtviertel, wo er gewiss nichts verloren hatte. U4, Umsteigen am Schwedenplatz, U1. Er könnte bis über die Donau hinausfahren, zu Neubausiedlungen beziehungsweise schon längst in die Jahre gekommenen Neubausiedlungen am Stadtrand. Es ist seltsam für diesen Autofahrer, sozusagen unbekleidet seinen Körper und sein Gesicht in der Menge spazierenzuführen. Dabei sieht er gut aus; täuschend gut; wie George Clooney in zehn Jahren oder Cary Grant 1965, ein vielleicht etwas derangierter George Clooney oder Cary Grant: immer war er davon überzeugt, dass dieses Aussehen wie auch seine Sprache nur dazu diente, zu verdecken, wie langweilig er war. Von seinem Sitzplatz aus schaut er lange Zeit einem unrasier-ten Mann in einer farblosen alten Arbeiterjacke zu, der mit einem Kugelschreiber in seinem Ohr bohrt. Es gibt eine Gesellschaftsklasse, denkt er, in der alle Menschen von einer dünnen und durchsichtigen grauen Schicht bedeckt sind: ihre Hände, ihre Kleidung, ihre Gesichter, vermutlich auch ihre Seelen und ihre Gedanken, zumindest seit sie wissen, dass ihnen keine Hoffnung geblieben ist, nur noch Resignation oder Hass und Ressentiment. Ihr Stolz, ihre Stärke, ihre Zukunft (das gab es einmal, und einen Namen dafür) erscheinen ihnen selbst nun so lächerlich wie allen anderen.
    Als sich der Mann umdreht, wendet er schnell den Blick ab; warum wirst du gleich nervös, warum glaubst du dich erkannt: du Müßiggänger mit Geld in der Tasche, Goldener Kreditkarte, immer noch, Stapeln und morschen Regalen voll modernden Wissens im Hirn: einer ungehörigen, ziellosen Neugier. Warum erscheint dir dieser Mann nun doch wirklicher als du selbst, und du weißt nicht, wohin mit deinen Blicken, bist plötzlich selbst sichtbar geworden. Er hielt es im Wagen nicht mehr aus, stand auf, nicht zu schnell, sich belauernd, du bemühst dich immerhin, sagt er zu sich selbst, auf dieser Flucht einen Anschein von Souveränität zu wahren (macht sie das ehrenhafter oder noch lächerlicher?). Rolltreppen, die ins Freie führen; ein Lichtschein, ein unbestimmter Lärm erwartet ihn oben, er wird, so plant er, einfach in die erstbeste Gasse hineingehen, die auf seinem Weg liegt.
    Securityleute in schwarzen Uniformen tragen ihre weißen Kindergesichter und ihre Schlagstöcke durch die Gegend, an einem Stahlträger mit unbekannter Funktion lehnt schlafend, mit vornübergefallenem Kopf ein Mann mit filzigem Pullover und fettigem Haar, in seiner Hand eine Dose alkoholfreies Bier. Die Securityleute gehen auf den Mann zu, du willst langsamer werden, abwarten, stattdessen beschleunigst du deinen Schritt und verlässt, ohne dich umzuschauen, die Glasschachtel des Bahnhofsgebäudes auf der falschen Seite. Dort erwartet dich eine leere Betonfläche mit Blick auf Straßenbahngleise, breite Straßen, dahinter Karusselle
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