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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton
Autoren: Lauren Groff
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zusammengekniffenen Augen gegenüberstanden, im Clinch über dem Küchentisch. Und ein- oder zweimal, anlässlich meiner größten Vergehen, war ihr dabei auch die Hand ausgerutscht und mit einem satten Klatschen auf meiner Wange gelandet.
    Doch jetzt gab sie mir keine Ohrfeige, und es war so still, dass ich die zweihundert Jahre alte Standuhr drüben im Wohnzimmer hören konnte, das langsame Tick-Tack-Tick-Tack ihres Pendels. Als ich aufschaute, saß Vi da und schüttelte den Kopf. «Ich kann es nicht fassen», sagte sie und schob mit einem Finger die Teetasse von sich weg. «Ich hab dich großgezogen, damit mal was ganz Besonderes aus dir wird, und jetzt hast du alles vermasselt. Genau wie deine bescheuerte Mutter damals alles vermasselt hat.» Die Haut ihres Gesichts zitterte, und sie wurde puterrot.
    Ich versuchte, sie am Arm zu berühren, doch sie zuckte zurück, als könnte schon der bloße Kontakt sie verbrennen. «Ich nehme jetzt ein paar Pillen», sagte sie und stand auf. «Ich werde so lange schlafen, wie ich schlafen kann. Und wenn ich wieder wach bin, überlegen wir, wie wir die Sache regeln.» Sie bewegte sich schwerfällig auf die Tür zu und blieb dort, immer noch mit dem Rücken zu mir, stehen. «Ach, und noch was, Willie. Deine Haare. Du hattest so schöne Haare», sagte sie und ging hinaus. Ich hörte ihre Schritte auf jedem einzelnen knarzenden Bodenbrett in dem alten Haus, die große Haupttreppe hoch, dann quer durch den Flur und ins Elternschlafzimmer.
    Erst seit den letzten Jahren war zwischen Vi und mir ein solch kühlerUmgang an der Tagesordnung. Als ich noch klein war, spielte ich bis nach Mitternacht mit meiner jungen Mutter Kribbage und Karten und hatte dabei dermaßen Spaß, dass ich weder bei anderen Mädchen übernachten noch zu den wenigen Geburtstagspartys gehen wollte, zu denen ich eingeladen wurde. Meine Mutter und ich hatten eine etwas sonderbare Verbindung zur Geschichte der Stadt, weil wir die letzten Abkömmlinge ihres Gründers, Marmaduke Temple, waren und direkte Nachfahren des berühmten Schriftstellers Jacob Franklin Temple, dessen Romane wir auf der Highschool jedes Jahr lasen – eine dynastische Verbindung, die einen meiner Professoren am College zu Tränen gerührt hatte, als ich sie ihm gestand. Doch wir waren auch mittellos, und meine Mutter war jung, unverheiratet und einfach zu schräg mit ihren Makrameebändchen und ihren mit Verve vorgetragenen politischen Ansichten, und so kam es, dass man außerhalb der Sicherheit unseres exzentrischen Hauses immer das Gefühl hatte, Vi und ich stünden gegen den Rest der Welt. Ich erinnere mich lebhaft daran, wie ich meine Mutter mit etwa zehn Jahren – damals musste sie achtundzwanzig gewesen sein, also in meinem jetzigen Alter – stundenlang hinter verschlossener Tür hatte weinen hören, weil man sie im Lebensmittelladen geschnitten hatte, und das war nur eine Erinnerung von vielen. Nachts träumte ich oft davon, so groß zu sein, dass ich die Hauptstraße entlanggehen und all unsere Widersacher unter meinen wütenden Riesenfüßen zermalmen könnte.
    Jetzt hockte ich ganz allein in der Morgendämmerung und trank den restlichen Tee meiner Mutter, um den Eisblock zu schmelzen, der sich in meinem Bauch gebildet hatte. Vi hatte unrecht: Ich wollte wirklich nach Hause. Für mich war Templeton wie ein Gliedmaß meines Körpers, das nicht so wichtig war, jedoch ganz und gar und wie selbstverständlich zu mir gehörte. Mein eigenes kleines, hübsches Städtchen mit seinen alten Herrenhäusern und dem prächtigen See, dieser nette kleine Weiler, in dem jeder deinen Namen kennt und der dennoch all die kleinen Schnörkel besitzt, durch die er sich von jedem anderen Ortauf der Welt unterscheidet: das Baseballmuseum, die Oper, das Krankenhaus, ein Ort, der seine Tentakel bis weit ins Hinterland ausstreckte, eine sonderbare Mischung aus Weltstadt und Kuhdorf. Hierher kam ich zurück, wenn ich musste, um mich wohlzufühlen, um meine Batterien aufzuladen; bloß dass ich das lange nicht gemusst hatte.
    Eine ganze Weile saß ich so am Tisch, schaute den Krähen dabei zu, wie sie sich über den Gemüsegarten hermachten und an den ererbten Strünken herumpickten, die unter Vis wohlwollender Vernachlässigung jedes Jahr von Neuem reiche Früchte trugen. Dann kam das Motorboot, das zuvor auf den See gerast war, wieder zurück, und schon bald knatterten weitere Boote wie ein schimpfender Schwarm Gänse. Neugierig geworden, schob ich die Glastür
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