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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton
Autoren: Lauren Groff
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zaghaftes Trillern von sich geben, weil sie nicht wissen, ob es Tag oder Nacht ist.
    Der Nebel war noch immer dicht, als Dr. Cluny bei seiner morgendlichen Ruderpartie auf das Ungeheuer stieß. Ich stelle mir vor, wie das vor sich ging: der schlanke Bootskörper des Einers, der über die See glitt, die Ruderblätter, um die sich beim Eintauchen ins Wasser immer größer werdende Ringe bildeten, das rote Positionslicht, das in der Dunkelheit pulsierte. Und dann, urplötzlich, riesig über der Schulter des Doktors aufragend, eine Insel, wo nie zuvor eine Insel gewesen war, der gewaltige Bauch des toten Tieres. Da er rückwärts ruderte, konnte der alte Doktor es zunächst nicht sehen. Er näherte sich; der Bugball seines Bootes, der sich in das gummiartige Fleisch bohrte wie ein Finger in einen schlaffen Ballon; der Druck des Bootes auf die Haut, der sie bis zum Äußersten spannte, ohne sie zu durchstoßen; und wie das Boot seine Bewegung in Richtung Bug abbremste und zum Heck ausbrach. Der Doktor drehte sich herum, war jedoch nur auf das Mögliche vorbereitet, weshalb er zunächst nicht wusste, wasda zu sehen war. Als er dann dieses riesige und furchterregende Auge erblickte, noch immer milchig im Todeskampf, blinzelte der gute Doktor. Und fiel in Ohnmacht.
    Als Dr. Cluny wieder zu sich kam, hatte sich der morgendliche Dunst gelichtet, breite Lichtbalken fielen über das Wasser, und ohne sich dessen bewusst zu sein, ruderte er wieder und wieder um das Tier herum, das mit dem Bauch nach oben im Wasser trieb, und weinte. In seinem Mund war der Geschmack von Andornbonbons, haargenau der Geschmack seiner längst vergangenen Kindheit. Erst als eine Möwe auf dem flachen Kinn des Leviathans landete und den Schnabel herabsenkte, um an dem Fleisch zu picken, kam Dr. Cluny wieder zu Sinnen; erst dann begann er hastig zu der langsam erwachenden Stadt zurückzurudern, und rief dabei die Neuigkeit über das Wasser.
    «Ein Wunder», schrie er. «Ein Wunder! Kommt schnell, und schaut es euch an!»
    In genau diesem Moment schlenderte ich in dem Park gegenüber von Averell Cottage, meinem Elternhaus, umher. Mindestens eine Stunde lang hatte ich in der Vertiefung gestanden, die die Stadtverwaltung jeden Winter mit Wasser füllte, um eine Eislaufbahn zu schaffen, und meinen ganzen Mut zusammengenommen. Der Nebel verhüllte das große, plumpe Anwesen mit seinem ursprünglichen Cottage aus dem Jahre 1793, das noch einen Flügel aus viktorianischer Zeit um 1890 besaß, und den Anbau aus den geschmacklosen 1970ern, der das Ganze dennoch zu etwas Einheitlichem, fast Schönem machte. In meiner Verzweiflung hatte ich das Gefühl, drinnen meine Mutter erkennen zu können, inmitten mehrerer Generationen von Antiquitäten aus Familienbesitz, ebenso wie den sanften Geist, der in meinem Kinderzimmer lebte. Beide schienen sich hinter den Mauern hauchfein abzuzeichnen wie die Knochen auf einer Röntgenaufnahme, so zart wie ein Kreidestrich.
    Ich spürte, wie die Welt um mich herum sich mit einem Knirschendehnte und schließlich, Faser um Faser, auseinanderschnalzte, wie ein Seil, an dem man zu fest gezogen hat.
    In der Nähe von Buffalo hatte ich mich auf der Toilette einer Raststätte im Spiegel betrachtet und mit Entsetzen festgestellt, dass ich einer Fremden in zerknitterter, schmutziger Kleidung ins Auge blickte, in ein einst hübsches Gesicht, das aufgedunsen und vom Weinen gerötet war. Ich war angespannt, mager, mein ganzer Körper übersät von den angeschwollenen Stichen Tausender alaskischer Kriebelmücken. Mein Haar, im April kurz geschoren, war herausgewachsen und stand in seltsamen braunen Büscheln vom Kopf ab. Ich sah aus wie ein zerzaustes Küken in der Mauser, halb verhungert und aus dem Nest geschubst, nachdem man seine Aufsässigkeit zu spät entdeckt hat.
    Während sich die Nacht um mich herum langsam lichtete, beugte ich mich vor und übergab mich. Und hatte mich immer noch nicht von der Stelle gerührt, als von der Lake Street ein gedämpftes Trappeln laut wurde. Noch bevor ich sie sah, wusste ich, dass das die Laufkumpels waren, eine kleine Schar von Männern mittleren Alters, die ich lieb gewonnen hatte und die jeden Morgen durch die Straßen von Templeton joggen, bei jedem Wetter, ob Glatteis, Regen oder, wie heute, in diesem feinkörnigen Nebel. Als die Kumpels näher kamen, hörte ich, wie sie sich leise unterhielten und sich gelegentlich ein Spucken und Schnaufen unter das Füßetrappeln mischte. Langsam schoben sie sich
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