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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton
Autoren: Lauren Groff
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Grunde unseres Gletschersees ruhte.
    Schon damals war irgendwie klar, dass das Ungeheuer ein einsames Geschöpf gewesen war. Die dicken Wülste über seinem Auge schenkten seinem Gesicht einen wehmütigen Ausdruck, und dabei verströmte es eine solch deutliche Aura der Verlassenheit, dass jeder Einzelne von uns, der es an jenem Tag im Park betrachtete, das Gefühl hatte, weit und breit das einzige menschliche Wesen zu sein, obwohl wir Schulter an Schulter standen. Später würden wir erfahren, dass die Taucher, denen es nicht gelang, bis zum Grund des Sees vorzudringen, nach Taucherglocken verlangt hatten, um ein weiteres Tier, ähnlich dem, das an jenem Tag an die Oberfläche gekommen war, aufzuspüren. Doch sosehr sie auch suchten, konnten sie kein weiteres Tier wie unseres entdecken, sondern nur Unrat: verrostete Traktoren und Plastikbojen und sogar ein altes Grammophon. Sie fanden eine komplette, gelb angemalte Kutsche und darin die Knochen eines kleinen Spaniels.Und sie bargen auch Dutzende von menschlichen Skeletten, von ertrunkenen oder ertränkten Menschen, die durch irgendeine Eigenheit der Strömungsverläufe oder der Metaphysik Schulter an Schulter nebeneinander zur Ruhe gebettet waren, auf einer flachen Sandbank in der Nähe des Kingfisher Tower, neben Point Judith.
    An jenem Morgen verspürte ich, bevor ich die Hand von dem Ungeheuer nahm, eine überwältigende Traurigkeit, und plötzlich stieg in mir die Erinnerung auf an einen Moment während meiner Highschoolzeit, als ich mich mit meinen Freunden um Mitternacht zur Anlegestelle des Country Clubs geschlichen hatte und wir, kichernd und splitterfasernackt, in das dunkle, sternengetüpfelte Wasser gestiegen und bis zur Mitte des Sees hinausgeschwommen waren. Dort traten wir eine Weile Wasser in der schwarzen Finsternis und wurden mucksmäuschenstill bei dem Gefühl, an einem solch wundervollen Ort zu schwimmen. Ich schaute auf und begann mich um die eigene Achse zu drehen. Die Sterne zogen über mir ihre leuchtende Bahn, mein Körper war in die warme Schwärze gehüllt, meine Hände verschwunden, und auch mein Bauch war nicht mehr da. Ich bestand nur noch aus einem Kopf und einem Paar Augen. Als ich nun das Tier berührte, erinnerte ich mich daran, dass ich in jener längst vergangenen Nacht gespürt hatte, wie sich in den Tiefen unter mir ein ungeheuerliches Wesen bewegte, etwas Riesiges und Weißes und Singendes.

Marmaduke Temple
    Auszug aus:
Geschichten aus der amerikanischen Wildnis,
1797
    Im Frühjahr Anno 1785 ließ ich meine Familie in New Jersey zurück und machte mich auf den Weg in die weite und trostlose Wildnis von New York, um das Land zu vermessen und rechtmäßig für mich in Besitz zu nehmen, das seither Quell meines Wohlstandes und meines guten Leumunds ist. Es war eine wundervolle Zeit, nach der Revolution, und in unserem jungen Land war ein Mann wie ich, der zuvor nur ein ungebildeter Fassmacher und Küfner gewesen war, durchaus dazu in der Lage, aus dem Nichts sein Glück zu machen und ein großer Mann zu werden. Die Reise war beschwerlich und der Boden immer noch gefroren, und ich war ganz allein in jener Gegend, die bis dahin von blutrünstigen Wilden heimgesucht wurde. Ich spürte, wie alle Augen des Waldes auf mir ruhten, und schlief mit dem Messer in der Hand.
    Als ich schließlich an den Rand meines Besitzes gelangte, ließ ich mein Pferd zum Weiden in einem grünen und saftigen Tal zurück und kämpfte mich mühsam einen steilen Berg hoch, um auf ein Land hinabzuschauen, das keine Menschenseele je erblickt hatte. Im Wald war es still, während ich über seltsame orangerote Pilze und knotige Wurzeln stieg. Zuerst war alles dunkel, und die Bäume warfen ein mittäglichesZwielicht auf mich. Dann jedoch öffnete sich vor mir in der Dunkelheit eine Kluft, ein Hang, der über dreißig Meter hinab zu den Baumwipfeln abfiel, und an dieser Stelle trat ich ins Licht hinaus.
    Unter mir lag der See, zwischen den Hügeln, an die er sich schmiegte und schimmerte wie ein Teller aus Glas. Drei Falken kreisten am bleichen Himmel, Kiefern säumten die Kuppen der Hügel. Von meinem verborgenen Platz aus beobachtete ich eine Bärin, die mit ihren Jungen in der Nähe der Flussmündung aus dem Wald kam, um am See zu saufen. Kein Lüftchen regte sich in dieser verlassenen Wildnis von New York, und es war ganz still.
    Plötzlich sah ich, wie am Rande des Sees geisterhaft Gebäude aufstiegen, eine richtige Stadt mit Kirchtürmen und Dächern,
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