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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton
Autoren: Lauren Groff
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sagte ich. «Mal ganz im Ernst. Was ist los?»
    Meine Mutter seufzte und sagte: «Menschen ändern sich, Willie.»
    «
Du
doch nicht», erwiderte ich.
    «Du solltest froh darüber sein», sagte sie. Sie senkte den Blick. Offenbar war ihr noch nicht aufgefallen, dass ich hier bei ihr im Haus stand, statt, um den endgültigen Beweis zu erbringen, dass es dort schon vor über 35.000 Jahren menschliche Wesen gegeben hatte, im Tag und Nacht gleißenden Licht der alaskischen Tundra Flechten von irgendwelchen Gegenständen abzupusten, von irgendeinem Schneidezahn, der tief im Boden steckte, oder einem Werkzeug, an dem immer noch das Schmierfett klebte, weil die Gefrierschranktemperaturen der Steppe es konserviert hatten. Das alles hätte ich unter den Fittichen von Dr. Primus Dwyer tun sollen, dem promovierten Philosophen, und Barton P. Thrasher, dem hochdekorierten Naturwissenschaftler in Stanford, wo ich in nur wenigen Monaten meine Doktorarbeit abschließen und promovieren sollte, auf dem besten Wege in eine unglaublich glänzende Zukunft.
    Als ich meiner Mutter bereits im zweiten Studienjahr gesagt hatte, dass ich wild entschlossen sei, meinen ganzen studentischen Ehrgeiz auf die Archäologie zu richten, hatte sie einen Moment lang tief enttäuscht ausgesehen. «Ach, Willie», hatte sie damals gesagt. «Es gibt doch auf der Welt gar nichts mehr für dich zu entdecken, mein Schatz. Warum in die Vergangenheit schauen, wenn man ebenso gut den Blick nach vorn richten kann?» Damals hatte ich stundenlang geredet – über das intensive Gefühl, einem Wunder beizuwohnen, wenn man den Staub von etwas wegpustet und feststellt, dass man einen alten Schädel in der Hand hat, wenn man auf einem Flintmesser die Kerben entdeckt, die von der Hand eines seit Urzeiten Verstorbenen dort eingeritzt wurden. Wie so viele Menschen, deren einst lodernde Leidenschaften schon längst erloschen sind, erkannte meine Mutter meine Passion und beneidete mich darum. Durch die Archäologie würde ich in die große, weite Welt hinauskommen, hinaus in Wüsten und Tundren,so weit weg von Templeton, wie sie mich – davon war ich überzeugt – immer haben wollte. Mittlerweile hatte sie längst ihr ganzes Ego und einen guten Teil des Erbes, das sie noch übrig hatte, in diesen Traum investiert: den Traum von mir als der unerschrockenen Erforscherin von Knochen und Tonscherben, die sich immer weiter in die Vorgeschichte hineinbuddelte. Nun, im diffusen Licht des anbrechenden Tages, schaute sie mich endlich an. Ein Motorboot fuhr in Höchstgeschwindigkeit über den See, und sein Brummen stieg bis zu uns herauf, über einen ganzen Hektar grasig-grün wuchernden Rasen hinweg.
    «Oh, Willie», sagte meine Mutter jetzt. «Du bist in Schwierigkeiten», und diesmal war es eine Feststellung, keine Frage mehr.
    «Vi», sagte ich. «Ich hab großen Mist gebaut.»
    «Natürlich», erwiderte sie. «Warum sonst würdest du hier in Templeton auftauchen? Sonst ist es dir ja sogar zu viel, einmal im Jahr an Weihnachten vorbeizukommen.»
    «Ach, scheiß drauf, Vi», sagte ich, setzte mich auf einen der Küchenstühle und legte den Kopf auf den Tisch.
    Meine Mutter schaute mich an, dann seufzte sie. «Willie», sagte sie. «Es tut mir leid. Ich bin so müde. Erzähl mir, was passiert ist, damit ich mich ein bisschen aufs Ohr legen kann, und dann sehen wir später, was wir machen können.»
    Ich schaute sie an und musste den Blick wieder gen Tisch senken, versuchte Muster in den schmierigen Streifen zu entdecken, die seine Oberfläche bedeckten. Und dann erzählte ich ihr eine Version der Geschichte, deutlich gekürzt.
    «Na ja, Vi», sagte ich. «Sieht so aus, als wäre ich schwanger. Und möglicherweise ist es von Dr. Primus Dwyer.»
    Meine Mutter schlug die Hand vor den Mund. «Oh, der Himmel steh uns bei», sagte sie.
    «Tut mir leid», sagte ich. «Aber Vi, das ist noch nicht alles.» Ich sagte es in einem Atemzug, in einem Rutsch. Ich erzählte ihr, dass ich auchversucht hätte, seine Frau, die Studiendekanin war, mit einem Buschflugzeug zu überrollen, und dass eine drohende Anklage wegen versuchten Mordes es mir vermutlich unmöglich machen würde, noch einmal nach Stanford zurückzukehren. Dann hielt ich den Atem an und wartete auf den knöchelharten Schlag ihres Handrückens auf meinem Gesicht. Trotz Vis Hippieansichten war es in meiner Kindheit nichts Ungewöhnliches gewesen, dass Streitigkeiten zwischen uns so endeten, dass wir uns keuchend und mit drohend
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