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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton
Autoren: Lauren Groff
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auf und trat auf die Veranda in die wärmer werdende Dämmerung. Von meinem Standpunkt aus sahen die Hügel rund um den Flimmerspiegelsee aus wie das gewaltige Hinterteil eines schlafenden Löwen, weich und pelzig. Langsam kamen die Motorboote wieder in Sicht, ein bleiches Etwas im Schlepptau, riesengroß und in der Morgensonne glitzernd.
    Und so kam es, dass ich barfuß über das kalte Gras hinunter zum Lakefront Park lief, so müde ich auch war. Unser Pool war mittlerweile so dick mit Algen bewachsen, dass er sich in einen Froschteich verwandelt hatte, in dem Tausende von kleinen Bäuchen vor Schreck erbebten, als ich vorbeikam. Ich überquerte den gesamten Rasen, die Brücke, die den Shadow Brook überspannte, und den hinteren Teil von Mrs. Herrimans Grundstück, bis ich an der Straße zum Lakefront Park stand und die Motorboote sehen konnte, die langsam in Richtung Ufer tuckerten.
    Ich stand unter der Bronzestatue des letzten Mohikaners, der bekanntesten unter den Figuren unseres Stadtromanciers Jacob Franklin Temple, und langsam versammelten sich noch andere um mich herum, Leute aus meiner Kindheit, die mir zunickten, als sie mich erkannten, verblüfft über die große Veränderung in meinem Äußeren und sprachlos angesichts der Feierlichkeit des Moments. Irgendwie war keinervon uns überrascht. Templeton ist eine Stadt voller Legenden, und die lauteten wie folgt: dass hier der Baseball erfunden wurde; dass einst ein versteinerter Riese, dreieinhalb Meter groß und pockennarbig vom Alter, aus einem Grab unter der Mühle geborgen wurde – reiner Humbug; und dass Geister unter uns lebten. Und auch auf diesen Tag waren wir vorbereitet gewesen durch die Mär von einem Seeungeheuer, die wir immer gehört hatten, durch die Gruselgeschichten, die man sich am Lagerfeuer in Sommercamps rund um den See erzählte, und die kleineren Gerüchte, die immer wieder durchsickerten. Oft stellte sich der Verrückte der Stadt, Piddle «der Pisser» Smalley, auf eine Bank im Farkle Park, wobei er seine vollgepisste Hose – daher sein Spitzname – verkehrt herum trug, und erzählte lauthals von einem Tag im regenschwangeren April, als er auf der Brücke über den Susquehanna stand, in den angeschwollenen Fluss hinuntersah und etwas Riesengroßes unter ihm vorbeigetrieben war und ihn mit seinen schwarzen Zähnen angegrinst hatte. Am Ende der Geschichte schrie er immer
Flimmy, Flimmy, Flimmy,
wie eine Beschwörungsformel.
    Der Großteil von Templeton war auf den Beinen und schaute dabei zu, wie die Boote mit ausgeschaltetem Motor aufs Ufer zuglitten. Unter lautem Ächzen legte das Touristenboot namens
Häuptling Unkas
am Dock an. Mit großer Feierlichkeit und knirschenden alten Gelenken kletterten die Laufkumpels an Land und vertäuten die Gurte, die man dem Ungeheuer umgelegt hatte, an den eisernen Haken in den Befestigungsmauern des Sees. In genau diesen wenigen Minuten, bevor die Nachricht von der wundersamen Bergung sich unter den Baseballtouristen in der Stadt herumgesprochen hatte und sie mit ihren primitiven Kameras und ihrem Geschrei und ihren posierenden Ehefrauen herbeigelaufen kamen, bevor auch die Übertragungswagen der Presse da waren, die mit hundertvierzig Stundenkilometern aus Oneonta, aus Utica und Albany herbeirasten, hatten wir ein paar lange, friedvolle Momente der Muße, um unser Monster zu besichtigen.
    In dieser kurzen Zeit konnten wir es uns in seiner ganzen gewaltigen Größe anschauen. Das Tier war riesig, hatte die Farbe zähflüssiger Sahne, die an einigen Stellen zu Zitrone geronnen war, und trieb auf dem Rücken. Es sah aus wie ein viel zu groß geratener Karpfen und hatte sowohl dessen dicken Bauch als auch die knopfrunden Augen, aber es besaß auch den langen, geschwungenen Hals einer Balletttänzerin und vier flossenbewehrte Beine, plump wie die eines Frosches. Die Taue der Motorboote hatten dem Tier in die Haut geschnitten und ihm tiefe Wunden beigebracht, aus denen noch immer dunkles, zähes Blut sickerte. Ich trat vor, um es zu berühren, dann taten es mir alle anderen nach. Als ich meine Hand auf seinen Bauch legte, spürte ich die poröse Haut und die winzigen Härchen, die ebenso fein und kurz waren wie die auf meinen eigenen Armen, nur dichter, als wäre die ganze Bestie mit Flaum bedeckt wie ein Pfirsich. Und obwohl ich erwartet hätte, das Ungeheuer habe sich an der morgendlichen Sonne etwas aufgewärmt, fühlte es sich kalt an, als wäre es aus dem Eis, das Gerüchten zufolge immer noch am
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