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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton
Autoren: Lauren Groff
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Tochter daumenlutschend in der Tür stand und ihrer Mutter aus Schachteln mit knusprigen Frühstückskringeln ein kleines O nach dem anderen ins feuchte, gerötete Gesicht schob. Am Ende jener drei Tage Trauerzeit wischte sich Vi das Gesicht ab, zupfte sich die drei getrockneten Tomatenkerne vom Kinn und ging nach unten, um noch einmal mit dem Gazpacho zu beginnen, dessen Zubereitung durch ihren kleinen Zusammenbruch unterbrochen worden war.
    Die offizielle Version der Geschichte des Todes meiner Großeltern lautete wie folgt: George und Phoebe Upton (geborene Tipton) waren zusammen bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Im Nachruf stand, sie seien bei überhöhter Geschwindigkeit auf der East Lake Road gefahren, an einer vereisten Stelle ins Schleudern geraten und eine zehn Meter hohe Böschung hinab in den See gerutscht, wo sie durch das noch weiche Eis eingebrochen waren. Bewusstlos durch den Aufprall, waren sie in dem winterkalten Wasser ertrunken. George war als promovierter Absolvent von Yale Stadthistoriker gewesen und arbeitete im Auftrag der Bibliothek der New York State History Association. Diese Bibliothek war in dem großen Bauernhaus aus Bruchstein untergebracht, das sich Franklin Manor nannte und das George, nicht ganz unbeabsichtigt, der NYSHA gestiftet hatte, denn obwohl esvon Jacob Franklin Temple persönlich errichtet und über Generationen hinweg weitervererbt worden war, war es so weitläufig und teuer im Unterhalt, dass George mit seinen bescheidenen Mitteln die Kosten dafür nicht mehr hatte tragen können.
    George war kein Mann, der verlorenem Eigentum nachweinte, doch seine ängstliche kleine Frau Phoebe begann ihre Sätze oft mit einem Seufzer und den Worten: «Als wir noch reich waren …», so wie in: «Als wir noch reich waren, ließ uns der Metzger
immer
anschreiben», oder: «Als wir noch reich waren, kannten wir die Roosevelts», wobei es sich allerdings um eine faustdicke Lüge handelte, denn es waren Georges Eltern, die mit der Präsidentenfamilie bekannt gewesen waren. In der Stadt wurde allgemein davon ausgegangen, die Familie habe ihr Vermögen beim großen Börsenkrach von 1929 verloren, obwohl ihr finanzieller Niedergang mindestens ebenso Georges geistesabwesender Misswirtschaft zuzuschreiben war.
    Wie George oft betonte, hätte ihm der schnöde Mammon nicht weniger bedeuten können. Er war ein Sonderling: großväterlich schon in jungen Jahren, streng, umweht vom muffigen Geruch nach Büchern und Rohrkolben. Vi konnte sich nicht erinnern, dass er sie auch nur einmal umarmt hatte. Doch sie verstehe ihn, sagte sie immer: Er war von seiner Großmutter aufgezogen worden, deren einzige Leidenschaft dem Waisenhaus galt, in dem sich heute das Altersheim Pomeroy Hall befand, und Vi hatte sich oft gefragt, ob er sich nicht vielleicht weniger wie ihr Enkel und mehr wie eines der Waisenkinder gefühlt hatte. Seine eigene Mutter war im See ertrunken, als er noch klein gewesen war, und sein Vater, der, vom Kummer schwer gezeichnet, nach Manhattan gezogen war und dem Jungen jeden Monat einen Scheck mit einer knappen Nachricht schickte, hatte sich nie wieder blicken lassen. Dennoch war George laut Vi recht glücklich gewesen. Denn wie sie herausfand, als sie nach Templeton zurückkehrte, hatte er einer privaten Leidenschaft gefrönt, der seine ganze Aufmerksamkeit galt.
    Als Vi sich an jenem Morgen, zitternd vor Kälte, in der Kanzlei des Anwalts wiederfand, erhielt sie eine erste Ahnung davon, dass die Begeisterung ihres Vaters für seine Arbeit weitaus größer gewesen war, als sie es sich vorgestellt hatte. Tatsächlich mochte es, wie der Anwalt ihr anvertraute, sogar ein solcher Höhenflug der Arbeitswut gewesen sein, der dazu geführt hatte, dass ihr ansonsten eher phlegmatischer Vater den Cadillac über die Böschung hinweggelenkt hatte.
    «Hhmm. War Ihr Vater denn», begann er behutsam, «nun, vielleicht ein bisschen
zu
anfällig für Kritik?»
    Worauf Vivienne nur antworten konnte: «O ja, und wie», weil sie sich daran erinnerte, wie ihr spießiger Erzeuger immer ausgeflippt war, wenn auch nur die leiseste Kritik an der republikanischen Partei, an Templeton oder an seinen schlampig gebundenen Frackschleifen laut wurde. Der Anwalt lächelte dem Mädchen überaus salbungsvoll zu. Chauncey Todd war ein alter Freund der Familie, ein Mann, der die Angewohnheit hatte, die Worte, an deren Betonung ihm lag, besonders gedehnt auszusprechen. Außerdem war er auch ein begeisterter Betrachter
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