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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton
Autoren: Lauren Groff
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Mutter, Krankenschwester, religiöse Fanatikerin, früh gealterte Frau. Vivienne hatte mit ihren vielen Schichten etwas von einer menschlichen Zwiebel, und als ich an dem Tag, als das Ungeheuer starb, mit meinen achtundzwanzig Jahren nach Hause kam, hatte ich die deutliche Befürchtung, dass es sich bei der Häutung zur baptistischen Wahnsinnigen um ihren eigentlichen, beißenden, zu Tränen reizenden Kern handelte.
    Damals jedoch war sie nur ein Mädchen, wenn auch eines, das bis unter den Haaransatz mit Medikamenten vollgepumpt war. Ein winziger Friedensanhänger tätschelte bei jedem Ruckeln des Busses eine ihrer BH-befreiten Brüste, als wollte er sie für den erst kürzlich erreichten neuen Status als Vollwaise trösten. Ihre beiden Eltern, das war ihr vage bewusst, waren irgendwie verstorben, doch wusste sie nur wenig über das Wie und Warum, und im Grunde war es noch gar nicht richtig zu ihr durchgedrungen, dass es ihre Erzeuger nicht mehr gab. Als Vivienne beim nächsten Mal die Augen öffnete, fiel ihr Blick direkt auf die weißen Gebäude von Templeton am Ende des Sees, wo sie sich wie eine Schar Gänse, bereit zu einem empörten Zischen, aneinanderdrängten. Vivienne war unbedarft genug, um sich nicht dessen bewusst zu sein, dass sich ihre Stadt schon bald gegen sie wenden würde.
Dieses Mädchen ist viel zu weit gegangen,
hieß es.
Schaut sie euch doch an.
Sie war gefährlich, befand man, ein personifizierter Protestmarschmit genau einer jungen Frau als Teilnehmerin, die nichts anderes im Sinn hatte, als durch ihr ungepflegtes Äußeres, durch ihre unrasierten Beine und die blutunterlaufenen Augen die Kinder von Templeton zu Haschisch und Sex und Sit-ins zu verführen.
    Bis dato hatte Vi nicht einmal die leiseste Ahnung von dieser bevorstehenden Abkehr: Für sie war Templeton nichts anderes als ihre Heimatstadt. Sie war verwandt mit dem Furcht einflößenden Marmaduke Temple, eine direkte Nachfahrin sowohl jenes großen Mannes als auch seines Sohnes, des bedeutenden Schriftstellers Jacob Franklin Temple. Vivienne betrachtete die Stadt als ihren Stammsitz, obwohl in ihr bereits die leise Ahnung schlummerte, dass sie als Hippie an derlei Kokolores eigentlich nicht mehr glauben sollte.
    Arme Vivienne. Als sie beim alten Eisenbahndepot aus dem Bus stieg und ihren (geklauten) blauen Koffer an die Bordsteinkante schleppte, war ihr noch nicht bewusst, dass niemand sie abholen würde. Da saß sie nun eine ganze Stunde lang, zitternd vor Kälte, und war sich sicher, dass sie ihrem Vater gesagt hatte, er solle sie abholen, sobald der Bus um die Ecke bog. Dann endlich fielen ihr der Autounfall und jener schreckliche Anruf während einer Party ein, bei dem sie lange Zeit gedacht hatte, jener Anwalt, der versuchte, ihr den Tod ihrer beiden Eltern schonend beizubringen, sei in Wirklichkeit ein Freund, der ihr einen Bären aufbinden wollte.
    Schließlich nahm die frischgebackene Waise in ihrem kalifornischen Fummel ihren Koffer und zog ihn den ganzen Weg die spiegelglatte Hauptstraße entlang, vorbei am Gericht, vorbei auch am Denkmal des Bürgerkrieges und den ganzen Weg bis zu Averell Cottage, wo kein Licht und kein Feuer im Ofen brannten und wo nichts sie erwartete als Stille und noch mehr Stille.
    Den Zettel vom Anwalt neben dem Telefon sah sie, doch sie war zu müde, um ihn zu lesen. Und erst in dem Moment, als sie völlig erschöpft die Treppe zum Schlafzimmer hochstieg, wo die beiden Kuhlen im Bett daran erinnerten, dass ihre Eltern hier so viele Jahre lang geschlafen hatten, begriff sie endlich, was geschehen war. Dass sich das hier zwar anfühlte wie ein Trip, aber nichts anderes war als die Wirklichkeit, aus der es auch im Schlaf kein Entrinnen gab. Als sie am nächsten Morgen im Bett der beiden aufwachte, waren sie immer noch fort, und sie hatte ihr Begräbnis um genau einen Tag verpasst.

    Vivienne Upton
Als Kind, beim Vortrag eines Gedichts für die versammelten Historikerfreunde ihres Vaters. Und später als junger Hippie.
    Am nächsten Tag ging Vivienne mit einem schweren Kopf umher, der sich anfühlte wie bis zum Platzen mit Wolle vollgestopft, und sie spürte zum ersten Mal, dass sie Waise war. Trotzdem weinte sie damals noch nicht, das würde sie auch erst Jahre später, als sie eines Tages eine noch gartenwarme Tomate vom Strunk schnitt, ihr Messer hinlegte, nach oben ins Schlafzimmer ging, sich auf das Bett legte und drei Tage lang durchheulte, um sich nicht einmal zu erheben, als ihre vierjährige
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