Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel
Autoren: Michel Houellebecq
Vom Netzwerk:
gemildert über die rohe Form ihrer Beziehungen, das fehlende Mitleid mit Alten und Schwachen, ihre unersättliche Gier nach Gewalt, nach hierarchischer oder sexueller Demütigung, nach reiner Grausamkeit. Sie hatte in New York praktisch die gleichen Szenen miterlebt wie jene, die ich in der Nähe von Alarcón beobachtet hatte — dabei waren die Stämme sehr weit voneinander entfernt und konnten seit sieben- oder achthundert Jahren keinerlei Kontakt mehr miteinander gehabt haben. Anscheinend konnte bei den Wilden kein Fest ohne Gewalt, ohne Blutvergießen, ohne eine in Szene gesetzte Marter stattfinden; die Erfindung komplizierter, grausamer Folterungstechniken schien sogar der einzige Bereich zu sein, in dem sie noch etwas vom Einfallsreichtum ihrer menschlichen Vorfahren bewahrt hatten; darauf beschränkten sich die Errungenschaften ihrer Zivilisation. Wer an die Vererbung moralischer Wesenszüge glaubte, den konnte das nicht verwundern: Es war nur natürlich, daß die brutalsten und grausamsten Individuen, jene, die über das höchste Potential an Aggressivität verfügten, in größerer Zahl eine Folge lang andauernder Konflikte überlebte und daß sie dieses Wesen ihren Nachkommen vererbten. Nichts hat bisher bestätigt — aber auch nicht widerlegt —, daß moralische Charakterzüge vererbbar sind; doch der Augenzeugenbericht von Marie23, wie auch der meine, erhärtete in ausreichendem Maß das endgültige Urteil, das die Höchste Schwester über die Menschheit gefällt hatte, und rechtfertigte ihren Beschluß, nichts zu unternehmen, um den Vernichtungsprozeß aufzuhalten, den die Menschheit vor zweitausend Jahren in Gang gesetzt hatte.
    Man konnte sich fragen, warum Marie23 ihren Weg fortgesetzt hatte; manchen Passagen ließ sich im übrigen entnehmen, daß sie mit dem Gedanken gespielt hat aufzugeben, aber sie hatte vermutlich wie auch ich und wie alle Neo-Menschen einen gewissen Fatalismus entwickelt, der mit dem Bewußtsein unserer eigenen Unsterblichkeit verbunden war, einen Fatalismus, der uns mit den menschlichen Völkern aus grauer Vorzeit verband, bei denen religiöse Überzeugungen so stark Fuß gefaßt hatten. Die geistigen Strukturen überleben die Wirklichkeit, die sie hervorgebracht hat, im allgemeinen sehr lange. Obwohl Daniel1 technisch gesehen unsterblich geworden war oder zumindest ein Stadium erreicht hatte, das der Wiedergeburt nahekam, ist sein Verhalten trotzdem bis zum Schluß von der Ungeduld, der Hektik und der Gier eines normalen Sterblichen bestimmt gewesen. Und auch ich, obwohl ich aus eigenem Antrieb aus dem Fortpflanzungssystem ausgeschieden war, das mir die Unsterblichkeit oder genauer gesagt die unendliche Replikation meiner Gene garantierte, auch ich wußte, daß es mir nie gelingen würde, mir den Tod wirklich ins Bewußtsein zu rufen; nie würde ich den Überdruß, die Begierde oder die Angst in gleichem Maße empfinden können wie ein menschliches Wesen.
    In dem Augenblick, als ich die Blätter wieder in den Behälter schieben wollte, stellte ich fest, daß er noch einen weiteren Gegenstand enthielt, den ich nur mit Mühe herausziehen konnte. Es handelte sich um eine aus einem menschlichen Taschenbuch herausgerissene Seite, die so oft gefaltet war, daß sie einen kleinen Papierfächer bildete, der in Stücke zerfiel, als ich ihn zu entfalten versuchte. Auf dem größten Fragment las ich diese Sätze, in denen ich den Dialog aus dem Gastmahl wiedererkannte, in dem Aristophanes seine Vorstellung von der Liebe vorträgt:
    »Wenn nun der Liebende, der Knabenfreund oder wer sonst, gar seiner eigenen anderen Hälfte begegnet, dann sind beide ganz wunderbar entzückt vor Freundschaft, Vertrautheit und Liebe; kurzum, sie wollen nicht mehr voneinander lassen, auch nicht für einen Augenblick. Solche Liebenden bleiben zeitlebens beieinander; und sie sind es, die nicht einmal zu sagen wüßten, was sie voneinander erwarten. Denn kaum jemand wird meinen, um des gemeinsamen sinnlichen Genusses willen sei der eine mit dem anderen so freudig und mit so großer Leidenschaft zusammen. Offenbar ersehnt doch beider Seele etwas anderes, was sie nicht aussprechen kann — nein, sie erahnt nur, was sie begehrt, und deutet es dunkel an.«
    Ich erinnerte mich sehr gut daran, wie es weitergeht: Hephaistos der Schmied erscheint den beiden Sterblichen, »während sie beisammen liegen«, und schlägt ihnen vor, sie zusammenzuschmelzen und zusammenzuschweißen, »so daß ihr aus zweien einer werdet,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher