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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel
Autoren: Michel Houellebecq
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wenn er ins Wasser sprang, vor mir herrannte, und vor allem, wenn ich an die Freude dachte, die seinem Blick anzusehen war, diese Freude, die mich zutiefst bewegte, weil sie mir so fremd war; doch dieses Leid und das Bewußtsein, daß mir etwas fehlte, erschienen mir unabwendbar, ganz einfach deshalb, weil sie da waren. Der Gedanke, daß es auch anders sein könnte, kam mir nicht in den Sinn, ebensowenig wie jener, daß eine Gebirgskette, die vor meinen Augen liegt, verschwinden und durch eine Ebene ersetzt werden könnte. Das Bewußtsein davon, daß alles auf der Welt völlig determiniert war, unterschied uns vielleicht am deutlichsten von unseren menschlichen Vorgängern. Wie sie waren wir nur bewußte Maschinen, aber im Unterschied zu ihnen war uns bewußt, daß wir nur Maschinen waren.
    Ich war gut vierzig Stunden lang in einem Zustand totaler geistiger Verwirrung gewandert, ohne nachzudenken, nur von einer vagen Erinnerung an die Strecke geleitet, der ich zuvor auf der Karte nachgegangen war. Ich weiß nicht, was mich haltmachen und mein Bewußtsein wieder erwachen ließ, vermutlich die seltsame Landschaft, die mich umgab. Ich mußte jetzt in der Nähe der Überreste des alten Madrid sein, auf jeden Fall befand ich mich auf einem breiten Fahrdamm, der sich bis ins Unendliche zu erstrecken schien, erst ganz in der Ferne konnte ich verschwommen eine dürre, nicht sehr hohe Hügellandschaft erkennen. Hier und dort hatte sich der Boden auf einer Länge von mehreren Metern angehoben und bildete riesige Blasen, die aussahen, als wären sie durch eine furchtbare, aus dem Erdinneren aufgestiegene Hitzewelle hervorgerufen worden. Ganze Abschnitte des Fahrdamms führten auf mehreren Dutzend Metern in die Höhe, dem Himmel entgegen, ehe sie jäh abbrachen und in einer Schutthalde aus Schotter und schwarzen Steinen endeten, Metallreste und zerborstene Fensterscheiben lagen auf dem Boden verstreut. Erst glaubte ich, in der Nähe einer Mautstelle der Autobahn zu sein, aber es gab nirgendwo ein Schild, das die Richtung anzeigte, schließlich begriff ich, daß ich mich inmitten der Trümmer des Flughafens Barajas befand. Als ich weiter in Richtung Westen vordrang, entdeckte ich ein paar Überreste menschlicher Aktivitäten: Fernseher mit flachem Bildschirm, Stapel von zerbrochenen CDs, ein riesiges Werbeplakat, das den Sänger David Bisbai darstellte. Die Strahlung mußte in dieser Gegend noch ziemlich stark sein, denn es war eines der während der letzten Phasen des zwischenmenschlichen Konflikts am heftigsten bombardierten Gebiete. Ich studierte meine Karte: Ich mußte ganz nah am Epizentrum der großen Verwerfung sein; wenn ich weiterhin mein Ziel ansteuern wollte, mußte ich nach Süden abbiegen, was mich durch die ehemalige Stadtmitte führen würde.
    Halb geschmolzene, ineinander verkeilte Autowracks verlangsamten mein Marschtempo auf der Höhe der Kreuzung zwischen der M 45 und der R 2. Als ich über das ehemalige IVECO-Gelände ging, stieß ich auf die ersten städtischen Wilden. Es waren etwa fünfzehn Gestalten, die sich in einer Entfernung von gut fünfzig Metern unter dem Metallvordach einer Lagerhalle versammelt hatten. Ich legte meinen Karabiner an und schoß; einer der Wilden brach zusammen, die anderen zogen sich ins Innere der Lagerhalle zurück. Als ich mich eine Weile später umwandte, sah ich, daß zwei von ihnen vorsichtig herausgekommen waren und ihren Gefährten in die Halle schleiften — vermutlich mit der Absicht, sich an ihm gütlich zu tun. Ich hatte mein Fernglas mitgenommen und stellte fest, daß sie kleiner und mißgebildeter waren als jene, die ich in der Nähe von Alarcón beobachtet hatte; ihre dunkelgraue Haut war mit Auswüchsen und Eiterbläschen übersät — vermutlich eine Folge der Strahlungen. Sie bekundeten auf jeden Fall die gleiche panische Angst vor den Neo-Menschen, und auch alle anderen Wilden, denen ich in den Trümmern der Stadt begegnete, nahmen sofort Reißaus, ohne mir die Zeit zu lassen, sie aufs Korn zu nehmen; ich hatte trotzdem das Vergnügen, fünf oder sechs von ihnen zu erlegen. Auch wenn die meisten von ihnen hinkten, bewegten sie sich sehr schnell und nahmen dabei manchmal ihre Arme zu Hilfe. Ich war überrascht, ja bestürzt über dieses unvorhergesehene Gewimmel.
    Erfüllt vom Lebensbericht meines Vorgängers Daniel1 überkam mich eine seltsame Rührung, als ich in die Calle Obispo de Leon einbog, wo sein erstes Rendezvous mit Esther stattgefunden hatte. Von der
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