Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel
Autoren: Michel Houellebecq
Vom Netzwerk:
System sozialer Kontrolle schaffen, das den Zugang zu der Vagina der Weibchen regelte, um das genetische Kapital der Gattung zu erhalten. All das entsprach dem Lauf der Dinge, und das Wetter an diesem Nachmittag war erstaunlich mild. Ich setzte mich ans Seeufer, während Fox im Dickicht herumschnüffelte. Manchmal sprang ein Fisch aus dem Wasser und rief auf der Oberfläche kleine Wellen hervor, die sanft im Sand ausliefen. Ich verstand immer weniger, warum ich die abstrakte, virtuelle Gemeinschaft der Neo-Menschen verlassen hatte. Wir hatten das leidenschaftslose Dasein von Greisen geführt, der Blick, mit dem wir die Welt betrachteten, war scharfsichtig, aber ohne Wohlwollen. Die Tierwelt war bekannt, die menschlichen Gesellschaften waren bekannt; hinter alldem verbarg sich kein Geheimnis, und von ihnen war nichts anderes zu erwarten als ein Blutbad nach dem anderen. »So ist das, und so bleibt das«, wiederholte ich mechanisch immer wieder, bis es mich fast in einen Zustand der Hypnose versetzte.
    Nach gut zwei Stunden stand ich auf, vielleicht ein wenig besänftigt, auf jeden Fall aber fest entschlossen, meine Suche fortzusetzen — zugleich hatte ich mich damit abgefunden, daß sie wahrscheinlich scheitern und zu meinem Tod führen würde. Plötzlich stellte ich fest, daß Fox verschwunden war — er hatte wohl die Fährte eines Tiers gewittert und sich weiter in das Unterholz vorgewagt.
    Ich suchte über drei Stunden lang das Gestrüpp, das den See umgab, nach ihm ab, rief ihn in regelmäßigen Abständen, während mich eine beängstigende Stille umgab und das Tageslicht allmählich schwächer wurde. Bei Einbruch der Dunkelheit fand ich seinen leblosen Körper, der von einem Pfeil durchbohrt war. Fox muß einen qualvollen Tod gestorben sein, denn in seinen Augen, die schon glasig waren, spiegelte sich panischer Schrecken. In einem letzten Anflug von Grausamkeit hatten die Wilden seine Ohren abgeschnitten; sie müssen es wohl in großer Hast getan haben, aus Angst, ich könne sie überraschen, denn es war ein unsauberer Schnitt, das Blut war dabei auf seine Schnauze und seine Brust gespritzt.
    Meine Beine wurden weich, und ich fiel vor dem noch warmen Kadaver meines kleinen Gefährten auf die Knie; vielleicht hätte es gereicht, wenn ich fünf oder zehn Minuten früher gekommen wäre, um die Wilden abzuwehren. Ich mußte ein Grab für ihn ausheben, doch ich hatte noch nicht die Kraft dazu. Die Nacht brach herein, und über dem See bildete sich allmählich eine kalte Nebelmasse. Ich betrachtete lange, sehr lange den verstümmelten Körper von Fox; dann kamen die ersten Fliegen.
    »Es war ein geheimer Ort und
    das Kennwort war: Élenthérine.«
    Jetzt war ich allein. Die Dunkelheit legte sich über den See, und ich war endgültig einsam. Fox konnte nicht wieder ins Leben gerufen werden, weder er noch ein anderer Hund mit den gleichen genetischen Merkmalen, er war der allgemeinen Vernichtung zum Opfer gefallen, der auch ich entgegenging. Inzwischen hatte ich die Gewißheit, daß ich die Liebe kennengelernt hatte, da ich wußte, was es hieß zu leiden. Ich dachte flüchtig an Daniels Lebensbericht zurück und sagte mir, daß diese Wochen der Wanderschaft mir eine zwar etwas vereinfachte, aber umfassende Vorstellung vom Leben der Menschen vermittelt hatten. Ich marschierte die ganze Nacht, den folgenden Tag, die darauffolgende Nacht und einen Großteil des dritten Tages. Ab und an machte ich halt, schluckte eine Kapsel Mineralsalz, trank einen Schluck Wasser und setzte den Weg fort; ich spürte keine Müdigkeit. Ich kannte mich weder in der Biochemie noch in der Physiologie gut aus, Daniel und seine Nachkommen waren keine Naturwissenschaftler. Aber ich wußte, daß der Übergang zur Autotrophie bei den Neo-Menschen von verschiedenen strukturellen und funktionellen Veränderungen der glatten Muskeln begleitet worden war. Im Vergleich zu den Menschen verfügte ich über eine viel stärker ausgeprägte Gelenkigkeit, Widerstandskraft und funktionelle Autonomie. Selbstverständlich war auch meine Psychologie anders geartet, ich kannte keine Angst, und auch wenn ich Leid empfinden konnte, waren mir nicht alle Dimensionen dessen, was die Menschen Trauer nannten, zugänglich; dieses Gefühl existierte zwar in mir, ging aber mit keiner konkreten Vorstellung einher. Ich spürte bereits, wie mir etwas fehlte, wenn ich an die Liebkosungen von Fox dachte, an die Art, wie er sich auf meinen Schoß legte und sich an mich schmiegte;
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher