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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel
Autoren: Michel Houellebecq
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ein paar Minuten gewandert war, kam ein See in Sicht, der sehr viel größer war als die anderen und bei dem ich zum ersten Mal nicht das andere Ufer erkennen konnte. Das Wasser war auch etwas salziger.
    Das war also das Element, das die Menschen das Meer nannten und das sie als den großen Trostspender und zugleich als den großen Zerstörer betrachteten, der die Küsten verschlang und ein sanftes Ende brachte. Ich war beeindruckt, und die letzten Bruchstücke, die mir noch zum Verständnis der Menschheit gefehlt hatten, setzten sich schlagartig zusammen. Ich begriff jetzt besser, wie der Gedanke des Unendlichen im Hirn dieser Primaten entstehen konnte, der Gedanke eines Unendlichen, das durch langsame, im Endlichen angesiedelte Übergänge erreichbar wurde. Ich begriff auch, wie sich eine erste Vorstellung von der Liebe in Piatons Hirn bilden konnte. Ich dachte an Daniel zurück, an seine Residenz in Almeria, die auch die meine gewesen war, an die jungen Frauen am Strand und wie er an Esther zugrunde gegangen war. Zum ersten Mal war ich geneigt, ihn zu bemitleiden, auch wenn ich ihn nicht mochte. Von zwei egoistischen, rationalen Tieren hatte das egoistischere, das rationalere der beiden schließlich überlebt, so wie es bei den Menschen immer vorkam. Da begriff ich, warum die Höchste Schwester soviel Wert darauf legte, daß wir den Lebensbericht unserer menschlichen Vorgänger studierten; ich begriff das Ziel, das sie damit anstrebte. Und ich begriff auch, warum dieses Ziel nie erreicht würde.
    Ich war unerlöst.
    Später ging ich weiter und stimmte meinen Schritt auf die Bewegung der Wellen ab. Ich wanderte tagelang, ohne zu ermüden, und nachts wurde ich von einer leichten Brandung in den Schlaf gewiegt. Am dritten Tag entdeckte ich mehrere mit schwarzen Steinen gepflasterte Wege, die ins Meer führten und sich in der Ferne verloren. War das ein Zugang, etwas, das von menschlicher oder neo-menschlicher Hand errichtet worden war? Das war mir jetzt egal; ich gab den Gedanken, diese Wege zu begehen, sehr bald auf.
    Gleichzeitig riß die Wolkendecke unvermutet auf, und ein Sonnenstrahl glitzerte auf der Wasseroberfläche. Ganz flüchtig dachte ich an die helle Sonne des Sittengesetzes, die dem WORT zufolge letztlich auf der Oberfläche der Welt erstrahlen würde; aber das würde eine Welt sein, in der ich nicht mehr existierte und deren Wesen ich mir nicht einmal vorstellen konnte. Kein Neo-Mensch, das wußte ich jetzt, würde imstande sein, eine Lösung für die inhärente Aporie des Daseins zu finden; jene, die es versucht hatten, falls es die wirklich gegeben hatte, waren vermutlich schon tot. Ich würde auf jeden Fall mein obskures Dasein als verbesserter Affe so gut es ging fortsetzen, und ich bedauerte dabei nur zutiefst, daß ich den Tod von Fox verursacht hatte, dem einzigen Wesen, dem ich je begegnet war, das es verdient hätte zu überleben; denn in seinem Blick lag schon manchmal ein Funke, der die Ankunft der Zukünftigen ankündigte.
    Ich hatte vielleicht noch sechzig Jahre zu leben; über zwanzigtausend Tage, die alle völlig gleich verlaufen würden. Ich würde es vermeiden zu denken, es vermeiden zu leiden. Alle Hindernisse des Lebens waren längst überwunden; ich war jetzt in eine friedliche Phase eingetreten, aus der mich nur der Tod reißen würde.
    Ich badete lange im Sonnenschein wie auch im Sternenlicht und spürte nur ein verschwommenes nahrhaftes Gefühl. Das Glück war kein möglicher Horizont. Die Welt hatte Verrat begangen. Mein Körper gehörte mir für eine kleine Weile; nie würde ich das festgesetzte Ziel erreichen. Die Zukunft war leer; sie war das Gebirge. Meine Träume waren von affektiven Präsenzen bevölkert. Ich war, ich war nicht mehr. Das Leben war real.
     
    Die Übersetzungen von Agatha Christie, Platon und Charles Baudelaire wurden folgenden Werken entnommen: Agatha Christie: Vorhang. Aus dem Englischen von Ute Sesslen. Frankfurt am Main 2004; Platon: Das Trinkgelage. Übertragung, Nachwort und Erläuterungen von Ute Schmidt-Berger. Frankfurt am Main 1985; Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen. Aus dem Französischen von Sigmar Löffler. Leipzig 1973.
     
    Der Autor
    Michel Houellebecq wurde 1958 in La Reunion geboren und lebt nach einem Aufenthalt in Spanien wieder in Irland. Von ihm sind 1999 auf Deutsch die Romane Ausweitung der Kampfzone und bei DuMont Elementarteilchen erschienen. Ebenfalls 1999 veröffentlichte DuMont die Essays Die Welt als Supermarkt.
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