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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel
Autoren: Michel Houellebecq
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der mir nicht mehr von Nutzen sein würde; jenseits der großen Verwerfung war weder von tierischem noch pflanzlichem Leben berichtet worden. Der Weg stellte sich sogleich als einfacher heraus, als ich gedacht hatte: Die Ascheschicht war nur wenige Zentimeter dick, und darunter befand sich harter Boden, der nach Schlacke aussah und auf dem die Füße gut Halt fanden. Die Sonne stand hoch am strahlend blauen Himmel, das Gelände bereitete mir keine Schwierigkeiten, es gab nichts, was mich von meinem Kurs abbringen konnte. Nach und nach versank ich beim Gehen in eine friedliche Träumerei, in der Bilder von veränderten Neo-Menschen, die feiner und zarter, fast abstrakt waren, mit der Erinnerung von seidigen, samtweichen Visionen verschmolzen, die Marie23 lange zuvor, in meinem früheren Leben, auf meinem Bildschirm hatte entstehen lassen, um die Abwesenheit Gottes zu versinnbildlichen.
    Kurz vor Sonnenuntergang legte ich eine kurze Pause ein. Aufgrund einiger trigonometrischer Beobachtungen konnte ich errechnen, daß das Gefälle etwa ein Prozent betrug. Wenn die Neigung bis zum Schluß die gleiche blieb, befand sich die Oberfläche der Meere etwa fünfundzwanzigtausend Meter unter dem Niveau der Kontinentalscholle. Das war nicht mehr weit von der Asthenosphäre entfernt; ich mußte also damit rechnen, daß die Temperatur im Laufe der folgenden Tage deutlich anstieg.
    In Wirklichkeit wurde die Hitze erst eine Woche später richtig unangenehm, und gleichzeitig machten sich die ersten Anzeichen von Durst bemerkbar. Der Himmel war unverändert klar und von tiefblauer Farbe, die immer intensiver wurde und fast düster wirkte. Ich entledigte mich nach und nach meiner Kleidung; in meinem Rucksack befanden sich nur noch ein paar Kapseln mit Mineralsalzen; ich hatte allmählich Mühe, sie einzunehmen, da meine Speichelsekretion nicht mehr ausreichte. Ich litt körperlich, was für mich eine neue Empfindung war. Das Leben der wilden Tiere, das in jeder Hinsicht der Natur unterworfen war, hatte bis auf wenige Momente jäher Entspannung und glücklicher Abstumpfung, die mit der Befriedigung der Instinkte verbunden war — Nahrungsaufnahme und Kopulation —, nur aus Schmerz bestanden. Das Leben der Menschen war im großen und ganzen ähnlich verlaufen und war ebenfalls vom Leid beherrscht — mit kurzen Momenten der Lust, die mit der Bewußtmachung des Instinkts verbunden waren, den das Menschengeschlecht als sinnliche Begierde bezeichnet hatte. Das Leben der Neo-Menschen dagegen erhob den Anspruch, besänftigt, rational und fern von Lust und Leid zu sein, doch die Tatsache, daß ich fortgegangen war, bezeugte, daß dieses Vorhaben gescheitert war. Vielleicht würden die Zukünftigen die Freude kennenlernen, ein anderes Wort für die kontinuierliche Lust. Ich marschierte ununterbrochen im Rhythmus von zwanzig Stunden pro Tag und war mir darüber im klaren, daß mein Leben jetzt nur noch von so banalen Faktoren wie der Regulierung des osmotischen Drucks, des Gleichgewichts zwischen dem Gehalt an Mineralsalzen meines Körpers und der Wasserreserve meiner Zellen abhing. Ehrlich gesagt, war ich mir nicht sicher, ob ich leben wollte, aber der Gedanke an den Tod hatte für mich keinerlei Konsistenz. Ich nahm meinen Körper als Träger wahr, aber er trug mich nirgendwohin. Ich hatte es nicht geschafft, Zugang zu dem GEIST zu finden. Dennoch wartete ich weiterhin auf ein Zeichen.
    Die Asche unter meinen Füßen wurde weiß und der Himmel ultramarinblau. Zwei Tage später fand ich die Nachricht von Marie23. Die Wörter waren in sauberer, zierlicher Handschrift in durchsichtige, unzerreißbare dünne Kunststoffblätter geritzt; diese waren zusammengerollt in einen zylinderförmigen schwarzen Metallbehälter gesteckt worden, der sich mit einem leisen Geräusch öffnen ließ. Diese Nachricht war nicht ausdrücklich an mich gerichtet, sie richtete sich ehrlich gesagt an niemanden: Sie war nur eine weitere Bekundung des absurden oder erhabenen Willens, der die Menschen beseelte — und der auch bei ihren Nachfolgern unverändert besteht —, Zeugnis abzulegen, ein Zeichen zu hinterlassen.
    Der Inhalt dieser Nachricht war zutiefst traurig. Um die Trümmer New Yorks zu verlassen, war Marie23 zwangsläufig auf zahlreiche Wilden gestoßen, die zum Teil in großen Stämmen lebten; im Gegensatz zu mir hatte sie sich bemüht, Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Die Furcht, die sie ihnen einflößte, hatte sie zwar geschützt, aber nicht ihr Entsetzen
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