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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel
Autoren: Michel Houellebecq
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um ein Vereinigungsritual handelte, ein Mittel, um die Bande der Gruppe enger zu knüpfen — und sich zugleich dabei der schwachen oder kranken Individuen zu entledigen. All das entsprach durchaus dem, was ich über die Menschheit wußte.
    Als ich aufwachte, waren die Grasflächen von einer dünnen Schicht Rauhreif bedeckt. Ich verbrachte den Rest des Vormittags damit, mich auf die, wie ich hoffte, letzte Etappe meiner Wanderung vorzubereiten. Fox folgte mir von Raum zu Raum und hüpfte vor Freude. Ich wußte, daß ich, wenn ich nach Westen ging, durch ebenere und wärmere Regionen kommen würde; die Überlebensdecke war überflüssig geworden. Ich weiß nicht genau, warum ich meinen ursprünglichen Plan wieder aufgriff, den Versuch zu wagen, Lanzarote zu erreichen: der Gedanke, einer neo-menschlichen Gemeinschaft zu begegnen, löste noch immer keine große Begeisterung in mir aus, im übrigen hatte ich keinen weiteren Hinweis dafür, daß es so eine Gemeinschaft überhaupt gab. Vermutlich war mir die Vorstellung, mein übriges Dasein in Gebieten zu verbringen, die von Wilden unsicher gemacht wurden — sogar in Gesellschaft von Fox und auch wenn ich wußte, daß ich sie viel mehr in Angst und Schrecken versetzte als sie mich und sie alles taten, um einen respektvollen Abstand zu halten —, nach dieser Nacht unerträglich geworden. Und da wurde mir klar, daß ich nach und nach alle Brücken hinter mir abbrach. Vielleicht gab es in dieser Welt keinen Platz, der mir zusagte.
    Ich zögerte lange angesichts meiner Karabiner. Sie waren unhandlich und würden meinen Marsch verlangsamen, ich machte mir keinerlei Sorgen um meine persönliche Sicherheit. Andererseits war es nicht sicher, ob Fox in den Regionen, die wir durchqueren mußten, so leicht etwas zu fressen fand. Er hatte den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt und verfolgte mich mit den Blicken, als begreife er mein Zögern. Als ich schließlich den kürzeren Karabiner nahm und einen Vorrat Patronen in meinen Rucksack steckte, sprang er auf und wedelte fröhlich. Er hatte offensichtlich Vergnügen an der Jagd gefunden und ich in gewisser Weise auch. Ich empfand jetzt eine gewisse Freude daran, Tiere zu töten und sie von der Erscheinung zu erlösen. Mein Verstand sagte mir, daß ich unrecht hatte, denn die Erlösung kann nur durch Askese erreicht werden, in diesem Punkt erschien mir die Lehre der Höchsten Schwester immer unbestreitbarer; aber ich war vielleicht im schlechtesten Sinne des Wortes menschlicher geworden. Wie dem auch sei, jede Zerstörung einer organischen Lebensform brachte uns dem Sittengesetz einen Schritt näher. Ich hatte die Hoffnung auf die Zukünftigen nicht aufgegeben und mußte zugleich versuchen, mich meinesgleichen oder jenen, die ihnen ähnelten, anzuschließen. Als ich meinen Rucksack zuschnallte, mußte ich an Marie23 zurückdenken, die auf der Suche nach der Liebe fortgegangen war und sie vermutlich nicht gefunden hatte. Fox hüpfte vor Freude darüber, daß wir uns wieder auf den Weg machten, wie verrückt um mich herum. Ich ließ meinen Blick über die Wälder und die Ebene schweifen und sprach innerlich das Gebet für die Erlösung der Kreaturen.
    Der Vormittag ging schon zu Ende und das Wetter war mild, fast warm; der Frost hatte nicht lange angehalten, der Winter begann erst, und ich würde endgültig die kalten Gegenden verlassen. Warum lebte ich? Ich gehörte im Grunde keiner Gruppe an. Ehe ich aufbrach, beschloß ich, noch einen letzten Spaziergang um den See zu machen; ich nahm den Karabiner mit, aber nicht um zu jagen, denn ich konnte die Jagdbeute ja nicht mitnehmen, sondern nur um Fox noch einmal die Freude zu machen, durchs Dickicht zu streifen und das Unterholz zu beschnüffeln, ehe wir uns aufmachten, um die Ebenen zu überqueren.
    Die Welt war da, die Wälder, die Wiesen und die Tiere in ihrer Unschuld — in Zähnen endende Speiseröhren auf vier Beinen —, deren Leben darin bestand, andere Speiseröhren zu suchen, um sie zu verschlingen und ihren Nährmittelhaushalt wieder aufzufrischen. Am frühen Morgen hatte ich das Lager der Wilden beobachtet; die meisten schliefen, nach ihrer blutigen Orgie des Vorabends von starken Emotionen übersättigt. Sie befanden sich auf dem Gipfel der Nahrungskette, sie hatten nur wenige natürliche Feinde, daher mußten sie selbst die Alten oder Kranken eliminieren, um den Stamm bei Gesundheit zu erhalten. Da sie nicht auf den natürlichen Wettbewerb zählen konnten, mußten sie auch ein
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