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Die Meisterin der schwarzen Kunst

Die Meisterin der schwarzen Kunst

Titel: Die Meisterin der schwarzen Kunst
Autoren: Guido Dieckmann
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Weibes zerstört worden.
    Im Hühnerstall des Pfarrers gackerten die Hennen aufgeregt durcheinander. Das taten sie immer, wenn sich jemand der Gartenpforte näherte. Die Tiere verfügten über ein besseres Gespür für Gefahr als jeder Wachhund. Henrika blieb stehen und spähte durch das grobe Dornengeflecht, das den kleinen Kirchhof wie eine schützende Mauer umgab. Es war dunkel, doch im Licht des Mondes konnte sie mühelos erkennen, dass jemand um die Ställe herumschlich. Ein Hühnerdieb? Sie hielt die Luft an, als sie eine Gestalt ausmachte, die eine Kappe aus rotem Filz trug. Die Kappe gehörte Lutz, Elisabeths Sohn, der sie wegen ihrer hübschen roten Farbe abgöttisch liebte und sie niemals absetzte. Manchmal fragte sich Henrika, ob sie gar mit seinem gewaltigen Schädel verwachsen war. Doch obwohl Lutz über einen massigen Körper verfügte, hatte sein Verstand sich doch bereits im zarten Kindesalter entschieden, nicht mit dem übrigen Körper zu wachsen. Lutz zählte zwanzig Jahre, war dem Gemüt nach aber ein Kind, dem die Natur in einer boshaften Laune die Gestalt eines Erwachsenen verliehen hatte. Elisabeth hatte den Schwachsinn ihres Sohnes lange ignoriert, doch irgendwann hatte auch sie sich damit abfinden müssen. Sie tat es klaglos, beinahe trotzig, indem sie den Blicken der Dorfbewohner niemals auswich. Sie hing an ihrem Sohn mit großer Zärtlichkeit. Nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, ihn im Haus zu verstecken oder auch nur zu verheimlichen, dass er nicht in der Lage war, ein Handwerk zu erlernen.
    Anders als Henrika war Lutz für die Bewohner des Dorfs aber kein Geheimnis, das ihnen Unbehagen einflößte. Schwachsinnige hatte es zu allen Zeiten gegeben, es war nichts Besonderes dabei. In den Städten gab es Narrentürme und Tollhäuser, an deren Türschwellen man fromme Gaben niederlegte. In den Dörfern ließ man sie links liegen. Die Kinder verspotteten sie und bewarfen sie zuweilen mit Steinen, aber ihre Angehörigen verweigerten ihnen selten das Plätzchen hinter dem Ofen oder einen Becher Milch. So war auch der Sohn der Baumwirtin aufgewachsen: verhöhnt und bemitleidet, aber nicht angefeindet. Solange Lutz friedlich blieb, hatte niemand Anlass, sich vor ihm zu fürchten.
    Henrika fragte sich, was Lutz wohl zu dieser Stunde noch im Dorf zu suchen hatte. Elisabeth hatte angenommen, er hielte sich in der Stube über dem Schankraum auf. Vermutlich wusste sie nicht, dass er noch einmal hinausgegangen war. Es gab eine kleine Außentreppe, über die man die oberen Räume der Schänke verlassen konnte, ohne die Gaststube durchqueren zu müssen. Lutz hatte unlängst herausgefunden, dass seine Mutter diese Treppe nicht mehr benutzte, da zwei ihrer Stufen gebrochen waren. Ihm machte das nichts aus. Mit seinen langen Beinen konnte er die zerborstenen Stufen mühelos überspringen.
    Auch wenn Henrika nicht daran dachte, Elisabeth von den nächtlichen Ausflügen ihres Sohns zu erzählen, war sie doch der Meinung, dass er nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr durchs Dorf schleichen sollte. Die Stimmung im Dorf war wegen der angeblichen Landsknechte, die sich nahe der Rheinfähre herumgetrieben haben sollten, bereits angespannt genug. Vielleicht waren die Männer Späher der Kaiserlichen. Die waren auf den Kurfürsten nicht gut zu sprechen, seit er im Reich die Protestanten unter seinem Banner vereinigt hatte. Henrika musste an die Drohungen des Flickschusters denken. Fehlte morgen auch nur ein einziges Huhn im Stall oder wurde ein Garten niedergetrampelt, so bestand die Gefahr, dass sich die Bauern voller Zorn zusammenrotteten, um sich am schwächsten Mitglied der Dorfgemeinschaft schadlos zu halten.
    «Lutz, bleib hier», zischte Henrika der Gestalt mit der roten Filzkappe hinterher, die zwischen den mächtigen Kornspeichern des Zollhauses verschwunden war. Seufzend folgte sie dem Wirtssohn. Was um alles in der Welt hatte Lutz hier bei den Scheunen verloren? Sie gehörten zum kurfürstlichen Grundbesitz; hier wurden Waren gestapelt und gewogen, und die Bauern der Umgebung lieferten in den zum Zollhaus gehörenden Gebäuden ihre Pachterträge ab. Henrika untersuchte die Flügeltüren, über deren Querbalken das Wappen Kurfürst Friedrichs hing. Beide Türen waren gesichert. Wer auch immer sie außer an den dafür vorgesehenen Zoll- und Zehnttagen öffnete, musste mit schweren Strafen rechnen.
    Auf Zehenspitzen schlich Henrika um die größere der beiden Scheunen herum, doch sie konnte in der
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