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Die Meerhexe

Die Meerhexe

Titel: Die Meerhexe
Autoren: Alistair MacLean
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war Lord Worth ein echter Lord, der fünfzehnte Sproß einer hochangesehenen Familie von schottischen Peers mit Sitz im Oberhaus des britischen Parlaments. Die Tatsache, daß ihre Betätigung sich hauptsächlich auf Morde, endlose Clankriege, Frauen- und Viehdiebstahl sowie Verrat an ihren Verwandten beschränkte, fiel nicht sonderlich ins Gewicht – die früheren schottischen Peers hatten eben nicht so viel für die mehr kulturellen Aspekte des Lebens übriggehabt. Das blaue Blut, das durch ihre Adern gelaufen war, zirkulierte jetzt jedenfalls in denen von Lord Worth. Obwohl er die familieneigene Rücksichtslosigkeit, den Besitzhunger und den Mut geerbt hatte, führte Lord Worth seine Geschäfte mit einer taktischen Vollendung, die seine Vorfahren niemals begriffen hätten.
    Lord Worth hatte den Trend der Kanadier, nach England zu gehen, dort ihr Glück zu machen und vielleicht sogar geadelt zu werden, genau umgedreht. Er war bereits adlig, dazu ausgesprochen vermögend, und er wanderte nach Kanada aus. Seine Auswanderung, die in aller Heimlichkeit und sehr überstürzt vonstatten ging, war nicht ganz freiwillig gewesen. Er hatte in London ein Vermögen mit Immobilien gemacht, bevor die Steuerfahndung auf seine Tätigkeit aufmerksam geworden war. Aber was auch immer gegen ihn vorgelegen haben mag – keine der Anklagen war so schwerwiegend gewesen, daß sie eine Auslieferung nach sich gezogen hätte.
    Er verbrachte mehrere Jahre in Kanada, investierte seine Millionen in die North Hudson Oil Company und bewies, daß er im Ölgeschäft noch mehr leisten konnte als auf dem Immobiliensektor. Als er zu der Überzeugung gelangte, daß Kanada auf die Dauer zu kalt für ihn sei, und deshalb nach Florida übersiedelte, umspannten seine Tankerflotten und Raffinerien bereits den Globus. Sein prachtvolles Haus war ein Gegenstand mißgünstiger Bewunderung für viele Millionäre, deren Vermögen sich allerdings in weit tieferen Regionen bewegte und die in der Gegend von Fort Lauderdale buchstäblich um Raum für ihre Ellbogen kämpften.
    Der Speiseraum des Hauses war eine echte Sehenswürdigkeit. Obwohl Mönche eigentlich allen irdischen Genüssen abhold sein sollten, hätte kein Mönch der Vergangenheit oder Gegenwart den schimmernden, eichenen Refektoriumstisch betrachten können, ohne vor Neid zu erblassen. Die Stühle waren natürlich Louis XIV. Der kunstvoll gewebte Seidenteppich, in dessen Flor sich eine Maus von durchschnittlicher Größe ohne weiteres hätte verstecken können, stammte aus Damaskus und war ein Vermögen wert. Die mit bestickter Seide bespannten Wände waren zartgrau wie die schweren Vorhänge und wurden durch Originalgemälde berühmter Impressionisten verschönt – es hingen nicht weniger als drei Werke von Matisse da und die gleiche Anzahl Renoirs. Lord Worth war kein Dilettant und versuchte ganz offensichtlich, die Versäumnisse seiner Vorfahren auf kulturellem Gebiet etwas auszugleichen.
    In dieser einem Prinzen würdigen Umgebung genoß Lord Worth gerade seinen zweiten Brandy und die Gesellschaft der beiden Menschen, die er über alles liebte – wenn man das Geld einmal aus dem Spiel ließ. Es waren Marina und Melinda, seine beiden Töchter, die ihre Namen von ihrer inzwischen von Lord Worth geschiedenen, spanischen Mutter bekommen hatten. Beide waren jung, beide waren schön, und man hätte sie für Zwillinge halten können – was sie nicht waren –, nur daß Marina blauschwarzes Haar hatte, während das von Melinda tizianrot leuchtete.
    Zwei Gäste saßen an dem wundervollen Tisch. Mancher ortsansässige Millionär hätte einen beträchtlichen Teil seines auf nicht ganz einwandfreie Weise erworbenen Vermögens dafür gegeben, an Lord Worths Tisch sitzen zu dürfen. Es wurden nur sehr wenige eingeladen, und die auch nur selten. Nur diese beiden jungen Männer, die vergleichsweise arm wie Kirchenmäuse waren, hatten das unglaubliche Recht, in Lord Worths Haus zu kommen, so oft es ihnen gefiel, und es gefiel ihnen ziemlich häufig.
    Mitchell und Roomer waren zwei nette Burschen von Anfang dreißig, die Lord Worth insgeheim bewunderte, denn sie waren die beiden einzigen wirklich ehrlichen Menschen, die er in seinem Leben kennengelernt hatte. Nicht, daß Lord Worth sich je auf die falsche Seite des Gesetzes begeben hätte – auch wenn er einen sehr guten Ausblick auf das hatte, was sich auf jener Seite tat –, es war einfach so, daß er es nicht gewöhnt war, mit ehrlichen Menschen
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