Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Macht

Die Macht

Titel: Die Macht
Autoren: Vince Flynn
Vom Netzwerk:
gewusst hätten, was Rapp alles getan hatte – doch das lag auch daran, dass sie eben keine Ahnung hatten, wie es im Nahen und Mittleren Osten zuging. Vielleicht würden ihn die Frauen am schärfsten kritisieren, ohne zu bedenken, wie sie von den Männern behandelt würden, die er getötet hatte. In einer islamischfundamentalistischen Gesellschaft wurden Frauen nicht einmal als Bürger zweiter Klasse behandelt. Sie waren das Eigentum ihres Vaters, und sobald eine Heirat vereinbart wurde, das Eigentum ihres Mannes. Nein, Amerika hätte es gar nicht ertragen können, zu erfahren, was er getan hatte – und deshalb war Geheimhaltung in diesen Dingen so wichtig.
    Rapp stand schließlich vom Bett auf und sah aus dem Fenster seines kleinen Cottage-Stil-Hauses. Das Wasser der Chesapeake Bay unter ihm sah ziemlich kalt aus. Die Blätter waren längst von den Bäumen gefallen, und ein kalter grauer Novemberhimmel hing über dem Land. Rapp fröstelte, wie er so in seinen Boxershorts dastand, und ging schließlich mit wenig Begeisterung nach unten. Er hatte um zehn Uhr einen Termin in Langley, dem er mit einiger Skepsis entgegenblickte. Als er im Erdgeschoss ankam, wurde er bereits von seinem neuen Freund, der Hündin Shirley, erwartet. Rapp tätschelte ihr den Kopf und begrüßte sie. Er hatte Shirley vor einigen Wochen in der Humane Society gefunden, als er einen Hund brauchte, um einen bestimmten Plan umzusetzen. Bei seinem bisherigen Arbeitsrhythmus wäre es unmöglich gewesen, ein Haustier zu halten, doch das würde sich ja nun ändern. Seine langen Auslandsaufenthalte würden bald der Vergangenheit angehören; zumindest hoffte er, dass es so war.
    Als Rapp in die Küche trat, sah er die Frau, die er liebte, am Tisch sitzen; sie aß ihr Müsli und las dabei die Zeitung. Er trat zu ihr und küsste sie auf die Stirn. Ohne ein Wort zu sagen, griff er nach der Kaffeekanne und schenkte sich eine Tasse ein. Kein Zucker, keine Milch, nur kräftiger schwarzer Kaffee.
    Anna Rielly blickte mit ihren leuchtenden grünen Augen zu Rapp auf. »Wie fühlst du dich heute?«, fragte sie.
    »Beschissen«, antwortete er und versuchte seine Schulter ein wenig zu lockern.
    »Was fehlt dir denn?«
    »Ich werde langsam alt«, sagte er und nahm einen Schluck von dem heißen Kaffee.
    Anna lächelte. »Soll das ein Scherz sein? Du bist zweiunddreißig.«
    »Bei dem Leben, das ich geführt habe, ist es so, als wäre ich dreiundsechzig.«
    Anna betrachtete ihn einige Augenblicke. Sie hatten sich unter ziemlich ungewöhnlichen Umständen kennen gelernt – und damals war ihr noch gar nicht aufgefallen, dass er auf eine etwas raue Weise durchaus attraktiv aussah. Doch sie hatte seither genügend Zeit gehabt, um ihn genauer anzusehen. Sie betrachtete Mitchs sonnengebräunten Körper, an dem man kein Gramm Fett erkennen konnte. Da waren nichts als Muskeln – von den breiten Schultern bis hinunter zu den Waden. Gewiss, sein Körper war nicht ganz makellos – Rapp hatte vier deutlich sichtbare Narben von Schusswunden, eine am Bein, zwei am Bauch und eine an der Schulter. Außerdem gab es noch eine Narbe von einem Messerstich an der rechten Seite des Oberkörpers. Und dann war da noch eine Narbe, auf die er besonders stolz war; sie war eine bleibende Erinnerung an den Mann, den er sich geschworen hatte zu töten, als er vor zehn Jahren seine wahnwitzige Reise begann. Sie verlief an der linken Seite seines Gesichts vom Ohr bis zur Kieferpartie hinunter. Die plastischen Chirurgen hatten ganze Arbeit geleistet, sodass die Narbe nur als feine Linie erkennbar war – doch für Rapp noch viel wichtiger war die Tatsache, dass der Mann, dem er die Narbe verdankte, heute tot war.
    Anna sah Rapp lächelnd an und streckte die Arme aus. »Ich finde, du siehst toll aus.«
    »Ich fühle mich aber trotzdem beschissen«, beharrte Rapp und blieb an der Arbeitsplatte stehen.
    »Du meine Güte, bist du heute schlecht gelaunt«, sagte Anna und ließ die Arme sinken. Sie musterte ihn kurz, ehe ihr schließlich einfiel, was ihn störte. »Du willst heute nicht mit Irene sprechen, nicht wahr?« Rapp murmelte etwas in seine Kaffeetasse. »Habe ich mir’s doch gedacht«, sagte Anna.
    »Es ist nicht wegen Irene. Ich habe ja nichts gegen sie … nein, ich freue mich sogar, sie zu sehen.«
    »Dann ist es wegen Langley?«
    »Ja … ich weiß nicht … wahrscheinlich.«
    Anna Rielly hatte das schon befürchtet, wenngleich sie nichts gesagt hatte. Sie war Reporterin, und es gehörte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher