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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt
Autoren: Joyce Hinnefeld
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den sie zufällig sah. Als wäre sie wieder eine verliebte, eine vogelverliebte junge Frau, aber nun ruhiger. Wenn sie zeichnete, fühlte sie sich beinahe abgeklärt.
    Kein Literaturmensch und, um ehrlich zu sein, wahrscheinlich auch keine große Künstlerin. Es stimmte schon, sie hatte einen Drang gespürt, die Dinge zu machen, die sie machte – und es belustigte sie nun, dass ihre Assemblagen ihr tatsächlich eine Art von Ruhm eingebracht hatten. Denn sie hatte nicht ein einziges Mal, das wusste sie, in ihren Werken erfasst, was sie vor ihrem geistigen Auge sah. Selbst Peterson bestätigte diese Einschätzung: »Es gibt einen Unterschied zwischen Illustration, die ein Lehrmittel ist, so wie in meinen Bestimmungsbüchern«, schrieb er, »und Malerei, die die eigenen Emotionen vermittelt. Ich beneide gewisse Maler, die das geschafft haben.« Er wünschte, er hätte Bilder von einer mehr
»audubonesken Qualität« malen können, schrieb er. Das zu lesen, tröstete Addie.
    Vielleicht hatte sie tatsächlich etwas geschaffen, was irgendwie ihre »Emotionen vermittelte«. Doch inzwischen fragte sie sich, was, wenn überhaupt etwas, sie dadurch erreicht hatte. Und nun, angesichts dieses plötzlichen Erinnerungsschwalls, zuerst den Winter über in Burnham und jetzt in Coras Werkstatt in Cider Cove, wo alle so viel Aufhebens um sie machten und nicht von ihrer Seite wichen, nun wünschte sie, das hier irgendwie erfassen zu können, die unglaubliche Klarheit ihrer Erinnerungen an all diese Orte.
    Vielleicht lief es letzten Endes einzig und allein darauf hinaus. Auf eine Art Nostalgie, die der Motor all dessen war, was sie tat. Ein Sich-Zurückwünschen in die Vergangenheit, an Orte, an denen sie so jung und voller Sehnsucht gewesen war, einer umfassenden und melancholischen Sehnsucht, die sie bis vor ein paar Monaten völlig vergessen hatte. Ein Bedürfnis, die Zeit um diese Orte herum anzuhalten, um sie zu bewahren, sie zu beschützen und dadurch die verlorene Welt ihrer Jugend zu erhalten.
    Dennoch wünschte sie wirklich, sie hätte etwas für den Wald am Burnham Ridge bewirken können. Wenigstens dort das letzte Wort zu behalten. Aber natürlich war das ein bisschen lächerlich. Tom und Scarlet und ihr Enkelkind verdienten jetzt ein wenig Frieden, eine Ruhepause von all diesen Sorgen.
    Es schmerzte sie doch, dass sie ihr Enkelkind niemals sehen würde.
    Es schmerzte sie auch, dass sie es nicht geschafft hatte, das Cuvier-Goldhähnchen zu malen, für Tom.

    Feldtagebucheintrag
    10. Mai 2001
Donnerstag
    Burnham Ridge (kleine Lichtung ca. 50 m von dem Pfad entfernt, der vom Nisky Creek hochführt, wahrscheinlich stand hier im vergangenen Jh. mal ein Haus, auf beiden Seiten flankiert von zwei perfekten Eichen).
    Zeit : 05.30 – 9.00
    Beobachter : Addie Kavanagh.
    Habitat : Hauptsächlich diese beiden Eichen und das Moos darunter; daneben auch ein Grüppchen Kiefern und eine Handvoll übriggebliebener Holzapfelbäume weiter westlich am Kamm. Blutwurz, Rittersporn, Coras geliebte Windröschen.
    Wetter : Bewölkt und kühl, noch feucht vom Regen der vorangegangenen Nacht. Temperatur stieg von 14 °C, als ich zu Hause losging, auf 18 °C bei meiner Rückkehr.
    Bemerkungen : Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, diese Stille zu beschreiben. Das allein wird ein schrecklicher Verlust sein.
    BEOBACHTETE SPEZIES
In den Kiefern und Holzäpfeln:
Wanderdrossel 4
Schwarzkopfmeise 5
Einsiedlerdrossel 1
Schwirrammer 2
Baltimoretrupial 2
Scharlachtangare 1

In der höheren Eiche am Südostrand der Lichtung:
Cuvier-Goldhähnchen [hypothetisch?] 1
    Anzahl der Spezies : 7; Anzahl der Individuen : 16; Zeit : 3,5 Std.
    Anmerkungen : Leider keine Spur von dem Pappelwaldsänger heute Morgen. Aber da war er wieder, Audubons »Zaunkönig«, auf einem Ast einer dieser riesigen Eichen. Es ist nicht möglich, aber er war da. Ein Rubingoldhähnchen, aber mit dem Streifen eines Indianergoldhähnchens auf dem Kopf. Das Cuvier-Goldhähnchen.
    10. Mai – Ein Optimist und ein Zauberer – fast habe ich dich im Verdacht, selbst ein Rubingoldhähnchen gebastelt und ihm mit Farbe diesen Streifen aufgemalt zu haben (habe ich nicht sogar ein ausgestopftes irgendwo im Schuppen? Offen gestanden, habe ich den Überblick verloren; du und Scarlet könnt euch damit amüsieren, sie alle zu katalogisieren, wenn ich nicht mehr da bin). Nach all diesen Jahren wäre ich wahrscheinlich immer noch darauf hereingefallen, wie du weißt.
    Ich bin wieder krank, Tom. Ich
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