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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt
Autoren: Joyce Hinnefeld
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    Zedernrinde und feuchtes, klumpiges Laub vor der Tür auf der Haupt Bridge Road.
    Holzrauch.
    Ein Hauch von fauligem Fisch bei Ebbe an der Küste New Jerseys.

    Terpentin, Borax, Klebstoff.
    Heiße, von der Sonne ausgedörrte Kiefern in den Hügeln entlang der nördlichen kalifornischen Küste.
    Pinyon-Kiefern und Salbei eines Frühlings in New Mexico.
    Glitschige Mangos an einem Strand in Costa Rica.
    Bay-Rum-Aftershave auf Toms Hals, rostiger Schweißgeruch in Kleidern, die er tagelang im Feld getragen hatte, ein salziges Rinnsal seines Samens auf der Innenseite ihres Oberschenkels.
    Ihre eigene Haut auf Brust und Armen, wieder zum Leben erweckt durch die Sonne am ersten warmen Frühlingstag – wie sie jeden Mai gerochen hatte, solange sie sich erinnern konnte –, eine namenlose Blüte, kaum geöffnet, deren Duft im selben Moment, in dem sie ihn erschnuppert, auch schon verschwunden ist.
    Als Addie Candace an jenem Tag beim Mittagessen von ihrer Liste erzählte, sagte ihre Freundin: »Tja, dann solltest du als Nächstes vielleicht Proust lesen.« Doch nach Prousts Erinnerung an seine Kindheit in Combray – den Geschmack der Madeleine, die Sehnsucht nach dem Kuss seiner Mutter – schweiften Addies Gedanken ab. Dann verstrich die Zeit, und sie nickte ein oder verfiel in eine Art Wachtraum, ihre eigene Erinnerung. An den Schaukelstuhl im Sonnenschein, in dem sie Scarlet immer stillte. An das fieberhafte Malen in Maine, als sie die Leinwand in Pink und Orange und Grün tränkte. An Toms Kuss auf den glitschigen Steinen des Nisky Creek, wo sie sich damals absichtlich fallen ließ, weil sie wusste, er würde sie auffangen, und weil sie unbedingt erleben musste, wie seine Lippen und seine Zunge schmeckten.
    Wenn Addie dann auf die Uhr sah, waren Stunden vergangen. Und sie hatte vielleicht höchstens drei Seiten gelesen.

    Tja, sie war eigentlich nie ein großer Literaturmensch gewesen. Selbst als sie noch Englisch im Hauptfach studierte, hatte sie da nicht auf Miss Smallwoods Anregung hin sofort mit Freuden Wordsworth und Keats in die Ecke geworfen, um sich Audubon zu widmen? Diese Bildtafeln hatten sie mit etwas erfüllt, was kein Gedicht jemals vermocht hätte.
    Selbst Scarlets Gedichte stellten Addie manchmal vor Rätsel, obwohl sie versuchte, offen dafür zu sein. An manchen Zeilen hatte sie sich festgehalten wie an einem Floß, hatte sie im Geiste wiederholt wie die Texte vertrauter Lieder, während sie malte oder ihre Vögel ausstopfte und montierte.
    »In all dem Schmutz und der Zerstörung, Mutter Kollwitz, wirst du uns finden?«
    »Diese raue Musik, mörderische Akkorde singender Bomben …«
    »Und krank vor Gewissheit marschieren wir weiter.«
    »Die Rohrdommel stößt Luft aus wie ein Ertrinkender …«
    »Der dunkle Junge steht allein, während die anderen über die Gräber rasen.«
    Handelten ihre Gedichte von konkreten Dingen?, hatte Addie sich getraut, Scarlet letztes Jahr zu Weihnachten in Cider Cove zu fragen. Bobby war auch bei Cora gewesen, abgemagert seit seiner Scheidung und den schweren Wochen nach dem 11. September, ohne Alkohol. Doch auch lebendig auf eine neue Art, genau wie, das merkte Addie, Scarlet es war. Natürlich, hatte sie gedacht, auch wenn sie niemandem etwas davon erzählt hatte: Natürlich hatten er und Scarlet wieder zueinandergefunden.
    Oder, hatte sie weitergefragt, sollten die Gedichte viele Fragen aufwerfen, viele Augenblicke, die unlösbar und ohne Zusammenhang waren, außer in dem Moment, in dem man das Gedicht las? Denn so erlebe sie selbst die Texte bisweilen (und
dann wieder gab sie einfach auf, aber das erzählte sie Scarlet nicht).
    »Ja, Addie, genau das ist es, würde ich sagen«, antwortete Scarlet. Später an jenem Abend glaubte Addie, vielleicht einen Erinnerungsfetzen erhascht zu haben, » krank vor Gewissheit«, eine Unterhaltung eines Morgens beim Frühstück. Hatten sie damals über den Golfkrieg gesprochen? Ging es in dem Gedicht also darum? Sie vergaß, Scarlet danach zu fragen.
    Die Bezüge auf Kollwitz allerdings, die konnte sie womöglich ein bisschen sich selbst anrechnen.
    Doch sie war wirklich eigentlich kein Literaturmensch, und sie war – besonders, so schien es, seit der Krebs zurückgekehrt war – auch nicht mehr in der Lage, viel von ihrer früheren Wut aufzubringen, ihrer »rechtschaffenen Empörung«, wie Tom es nannte. Und so hatte Addie in jenem Herbst und Winter hauptsächlich skizziert und nur gelegentlich gemalt. Jeden Vogel,
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