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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Scheune gezimmert wurde, die einmal Addies Eltern gehört hatte. War das die Addie, die sie kannte, diese Frau mit dem plötzlichen Wunsch nach einer symbolischen Verbindung zu ihrer Vergangenheit, ihrem Elternhaus? Kannte sie ihre Mutter überhaupt?
    Am Ende zieht Dustin einen selbstgebastelten Holzkarren mit alten Fahrradreifen, den Tom und Addie normalerweise benutzen, um den Kompost aus dem Schuppen zu schaffen. Irgendwie gelingt es ihm und Tom, Addies Sarg mit einem Stück Wäscheleine und mehreren Expandern auf dem Wagen zu befestigen, und gemeinsam steuern sie dieses sperrige Gefährt auf dem klapprigen Steg über den rauschenden Bach und dann über die engen Serpentinen hinauf zum Kamm der Hügelkette.
    Scarlet fühlt sich hilflos und überflüssig, als sie mit einer kleinen Schaufel und einer Spitzhacke hinter den beiden herläuft, aber Tom will sie auf keinen Fall helfen lassen. Sie kann ihn nur mit Mühe überreden, wenigstens etwas Werkzeug tragen zu dürfen. Als sie den Grat erreichen und die Stelle finden, die Addie Tom vorgeschlagen hat – eine winzige Lichtung tief im Wald, auf beiden Seiten flankiert von zwei alten Eichen –, trinken er und Dustin einen Schluck Wasser und ruhen sich wenige Minuten aus, bevor sie zu graben beginnen.

    Beide haben das Hemd ausgezogen und sind von einem Schweiß- und Schmutzfilm bedeckt, als sie schließlich den Sarg hochheben und ihn vorsichtig in die Grube senken, die sie ausgehoben haben. Am Horizont sind schon erste Spuren blassgrauen Lichts zu erkennen. Scarlet unterbricht die beiden Männer für einen Moment, gerade lang genug, um das morsche Holz aus der Scheune ihrer Großeltern zu küssen und einen Abschiedsgruß zu flüstern.
    Es ist erstaunlich, wie perfekt es sich anfühlt und anhört, als Tom ihr die Schaufel reicht und sie die ersten Brocken Erde hineinwirft. Das Kratzen von Steinen auf dem rauen Holz macht ein wuchtiges Geräusch, das Scarlet in der Brust spürt. Bei diesem Klang fällt all die Spannung in ihren Armen, ihrem Rücken und Nacken, alles, was sie in diesen letzten Tagen in sich festgehalten hatte, von ihr ab und vermengt sich mit der Erde.
    Das hier ist vollkommen richtig, denkt sie. Wie konnten sie etwas anderes überhaupt in Betracht ziehen? Addie ist kein Phoenix, sie einzuäschern wäre falsch gewesen. Ihre Vogelknochen gehören hierher, in den Waldboden, den sie liebte. Aus ganzer Überzeugung und tief in der Erde beginnt ihr Körper nun den langen, bedächtigen Prozess, die Bäume und Moose und Farne über sich zu nähren, anstatt zu Asche vermindert auf den Wellen in dem Bach zu treiben, flüchtig und vergänglich auf eine Weise, die Addie selbst ganz sicher niemals war.
    Scarlet würde gern noch länger bleiben, mit ihrer Mutter sprechen, sie um Rat bitten. Würdest du meine Gefühle für Bobby Liebe nennen, Addie?, könnte sie fragen. Sind sie dem ähnlich, was du für Tom empfunden hast? Aber sie weiß, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt, und deshalb tritt sie zurück, damit auch Tom sich von Addie verabschieden kann. Sie stellt
sich neben Dustin, der auf seine Schaufel gestützt wartet und auf den Fluss blickt.
    Tom wirft eine Schaufel Erde auf das Grab, fällt auf die Knie und fängt an zu schluchzen. Scarlet kann den Anblick nicht ertragen und möchte ihn umarmen, doch Dustin hält sanft ihre Hand fest. »Lass ihn trauern«, sagt er ruhig, immer noch dem Fluss zugewandt. Also dreht auch sie sich schweren Herzens um, während Tom um seine geliebte Adeline weint.
    Der Himmel ist rosa, als Tom und Dustin die Erde auf Addies neuem Grab festklopfen. Die Vögel singen schon seit über einer Stunde. Der Weg nach unten ist mühsam, Tom und Dustin ziehen den klobigen Karren. Alle drei bleiben kurz stehen und lauschen einer Trauertaube in den Bäumen über sich. Am Ufer des Bachs steigt ein Kanadareiher in die Luft, seine breiten Flügel sind nur wenige Meter von ihren Köpfen entfernt.
    Dustin geht noch kurz im Nisky Creek schwimmen, bevor er den Kühlwagen zurück nach Cider Cove fährt. Er lehnt das Frühstück ab, das Scarlet ihm anbietet. »Ich sollte mich besser auf die Socken machen«, sagt er. »Eure Nachbarn könnten sich über den Fischlaster in eurer Auffahrt wundern.« Noch ehe Scarlet einwenden kann, dass das jetzt kaum noch eine Rolle spielt, ist er weg.
    Während Tom sich duscht, macht sie Eier und Toast. In einem für ihn völlig untypischen Jackett mit Krawatte kommt er zurück in die Küche. Er möchte um Punkt neun
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