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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt
Autoren: Joyce Hinnefeld
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prophezeien, dass du bei deinem Kind auch den ein oder anderen Fehler machen wirst, Scarlet. Das gehört zum Elternsein dazu.«
    In diesem Augenblick sieht er so alt aus, so alt und müde. Er sieht jetzt schon aus wie ein Großvater, denkt Scarlet. Warum, fragt sie sich plötzlich, tut sie ihm das an?

    Sie tritt näher, nimmt seine Hand und legt sie sich an die feuchte Wange. »Aber wir können sie nicht hier begraben, Tom. Du weißt, dass wir das nicht können.« Es verwundert sie, wie tief sie davon überzeugt ist.
    Sie sieht ihrem Vater in die Augen. »Zumindest nicht meinetwegen«, ergänzt sie. »Warum um Himmels willen sollte Addie plötzlich beschließen, dass ich beschützt werden muss? Du bist doch hier derjenige, der etwas zu verlieren hat.«
    Das hatte er selbst gesagt, als Addie ihm ihren Einfall unterbreitete. Einen Leichnam exhumieren zu müssen, bevor Bert Schafers Bautrupp seine Arbeit beginnen konnte – das würde vielleicht wirklich nicht ausreichen, um das Vorhaben Schafers und der Collegeverwaltung zu vereiteln. Aber es könnte ausreichen, dass Tom endgültig gefeuert würde.
    Scarlet dreht sich um und lehnt sich neben ihrem Vater an den Lkw. »Wenn es darum geht, wenn du Angst hast, deinen Job zu verlieren, dann höre ich auf dich, Tom«, sagt sie. »Aber nicht, wenn ich der Grund bin, nicht, wenn ihr mich vor irgendetwas beschützen wollt, ohne dass ich auch nur darum gebeten habe.«
    Tom betrachtet seine Hände. »Ach, inzwischen mache ich mir um meine Arbeit keine Sorgen mehr.« Er blickt Scarlet von der Seite an und lächelt erschöpft. »Wahrscheinlich wird es ohnehin Zeit für mich, in Rente zu gehen. Dann kann ich genauso gut mit Pauken und Trompeten abtreten.« Er drückt ihre Hand an sein Gesicht, bevor er weiterspricht.
    »Aber Scarlet, du musst mir glauben: Ehe sie starb, hat Addie es mir ganz klar gesagt. ›Begrab mich einfach zu Hause‹, sagte sie. ›Um Scarlets willen und um ihres Kindes willen.‹«
    Da nickt Scarlet, sie erinnert sich. Vor zwei Wochen, als Addie ihr und Tom erstmals eröffnete, am Burnham Ridge beerdigt werden zu wollen, auf dem Grund und Boden des
College, war Scarlet noch nicht sicher gewesen, ob sie wirklich schwanger war. Und aus irgendeinem Grund hatte sie sich nicht getraut, Addie und Tom schon davon zu erzählen. Sie hat damit gewartet, bis sie vor drei Tagen zurück nach Cider Cove fuhr und die Bestätigung aus dem Labor dabeihatte. Und das war der Moment, als Addie zu ihr sagte, sie werde eine wundervolle Mutter sein.
    Ach, Addie, denkt sie jetzt, warum muss ich das ohne dich tun? Sie vergräbt das Gesicht in dem Taschentuch, das Tom ihr gibt, während er schweigend neben ihr steht und den Arm wieder um ihre Schultern gelegt hat. Schließlich sagt sie: »Wenn du bereit bist, es durchzuziehen, möchte ich sie am Burnham Ridge begraben. Ich möchte tun, worum sie vor zwei Wochen gebeten hat, als sie noch den Willen zu kämpfen hatte.« Sie sieht Tom an und versucht zu lächeln. »Mein Kind soll wissen, dass seine Großmutter sich von diesem Mistkerl nicht hat einschüchtern lassen und keinen Schritt zurückgewichen ist, nicht einmal am Schluss.«
    Diese Worte klingen ein bisschen albern aus ihrem Mund, das weiß Scarlet. Meint sie das überhaupt ernst? Ja und nein. Sie selbst würde anders kämpfen, denkt sie. Indem sie sich nicht weigert, noch einmal eine Chemotherapie zu probieren, zum Beispiel. Du hättest dich stärker wehren können, Addie, geht es ihr durch den Kopf. Um deines Enkelkindes willen.
    Nicht, dass Scarlet sich für ihre Schwangerschaft einen besonders guten Zeitpunkt ausgesucht hätte.
    Glaubt sie das denn überhaupt wirklich – dass sie selbst eine weitere Runde Chemotherapie niemals abgelehnt hätte? Unmöglich zu sagen.
    Es ist nicht leicht, Addie und ihren Sarg zu der Stelle oben am Kamm zu transportieren, die sie sich ausgesucht hatte. Es gibt
einen überwucherten Feldweg, der die Sache deutlich vereinfachen würde, aber Tom meint, es wäre zu riskant, mit dem Auto zu fahren. Um ohne Scheinwerfer den Weg zu finden, ist es zu dunkel, sagt er, und jemand aus einem der darunter liegenden Häuser an der Haupt Bridge Road könnte die Lichter sehen und den Wachdienst des Campus benachrichtigen, weil er glaubt, sie wären betrunkene Studenten.
    Zum ersten Mal fällt Scarlet auf, wie merkwürdig diese zusätzliche Schwierigkeit ist. Warum überhaupt einen Sarg? Und nicht nur irgendeinen Sarg, sondern einen, der aus dem Holz einer
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