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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt
Autoren: Joyce Hinnefeld
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der Beginn des Frühjahrsvogelzugs durch den nordöstlichen Teil der Vereinigten Staaten. Scarlet und Tom sind in Cider Cove, einem momentan in der Nebensaison verschlafenen Städtchen an der Küste New Jerseys, in dem zu einer Pension umfunktionierten, verschachtelten alten Haus von Addies guter alter Freundin Cora. Scarlet hätte von ihrer Mutter erwartet, lieber in ihrem eigenen baufälligen
Cottage in Burnham sterben zu wollen, die Fenster weit dem morgendlichen, lärmenden Chor geöffnet. Doch das alte Fischerhaus ist über und über mit Erinnerungen angefüllt, und in den letzten zehn Jahren schien sogar Vogelgesang Addie, zumindest zeitweise, wütend oder traurig oder beides zu machen.
    Am vorangegangenen Abend hat Scarlet Addie, die sichtlich ihre letzten Atemzüge machte, mit Tom allein gelassen. Sie konnte nicht ertragen, dabei zu sein, wenn ihre Mutter starb. Also setzte sie sich mit angezogenen Beinen auf einen Korbdiwan auf Coras überdachter Veranda, betrachtete die Sterne, lauschte dem Wind und dem Donnern der Wellen am Fuße des langen Abhangs, der von der Pension hinabführte. Als Tom sie einige Stunden später weckte, schlüpfte gerade ein zartes Licht durch die violetten Wolken, und die Hospizmitarbeiterin packte ihre Tasche.
    »Addie ist tot, Scarlet«, sagte Tom. »Hilf mir bitte, ihren Leichnam die Straße runterzutragen.« Und so folgte Scarlet ihm in Coras Werkstatt, in der seit einigen Wochen schon Addies Krankenhausbett stand. Cora war während der letzten Tage ebenfalls dort gewesen, wie auch Lou, Addies andere gute Freundin. Nun weinten beide Frauen still vor sich hin, machten sich an der Bettwäsche zu schaffen, ordneten Blumen in Vasen. Sie wirkten verzweifelt bemüht, eine nützliche Beschäftigung zu finden. Tom steckte eine Decke um Addie fest, wie um sie warm zu halten. Jede Bewegung, jede dieser Gesten kam Scarlet gleichzeitig komisch und unerträglich traurig vor. Sie sah ihrem Vater zu, als er den winzigen, federleichten Körper ihrer Mutter auf die Arme nahm.
    Erneut wickelte Tom die Decke fest um Addie, als er sie auf die Liege im Kühlraum eines Restaurants ein paar Häuser weiter legte. Es war das einzige Fischlokal in Cider Cove, wurde
von einem treuen und diskreten Freund Coras betrieben und war außerhalb der Saison nur am Wochenende geöffnet. Tom hatte Cora mitgeteilt, dass sie möglicherweise ein paar Tage bräuchten, um alles zu »arrangieren«, und innerhalb von einer Viertelstunde hatte sie die Nutzung dieses Kühlraums bei ihrem Freund organisiert.
    Keiner von ihnen wollte Addie dort zurücklassen. Doch es sei, meinte Tom, sicherlich besser, ihren Leichnam dort zu wissen statt in Coras Haus, während sie überlegten, was als Nächstes zu tun sei. Sonst würden sich alle nur Sorgen machen. Scarlet benahm sich still und fügsam, als sie Addie umbetteten. Sie fühlte sich wieder wie ein Kind, verließ sich ganz darauf, dass ihr Vater sich um alles kümmern würde, ganz besonders um alles, was mit diesem Rätsel von einer Mutter zu tun hatte.
    Addie sah selbst aus wie ein Kind. Eine ganze Weile lang hielt Scarlet die Hand ihrer Mutter, aber irgendwann kam ihr das erzwungen vor, als versuchte sie, die Rolle der trauernden Tochter zu spielen, statt wirklich eine zu sein. Sie hatte schon ihre Augenblicke, sehr intensive Augenblicke mit Addie gehabt : einen vor zwei Tagen, als Scarlet abends mit ihr allein gesprochen und Addie plötzlich ganz präsent und klar gewirkt hatte, wieder wie sie selbst. Und dann gerade eben erst, als sie ihrem Vater unter den vertrauten Straßenlaternen Cider Coves die Straße hinunter gefolgt war und beobachtet hatte, wie zärtlich er Addies Körper in den Armen trug, das Gesicht an ihrem Hals vergraben, sie ein letztes Mal einatmend.
    Endlich schlossen sie Addie in dem Kühlraum ein und liefen schweigend zurück zu Coras Haus, während um sie herum der Morgen graute. Tom holte sein Fernglas und sein Spektiv und machte sich auf Vogelsuche. Scarlet ging mit ihrem Notizbuch zurück auf die Veranda. Cora und Lou waren nirgends zu sehen.

    Und so begann Scarlet zu schreiben. Vor Jahren hatte sie einen Moment des Erfolgs als Dichterin erlebt, eines Erfolgs, der durch seine Verbindung zu ihrer Mutter kompliziert war. Zwei der bekannteren Gedichte in ihrem einzigen veröffentlichten Band handelten, indirekt, aber unverkennbar, von Addie. Sie handelten außerdem, auf gewisse Weise, von Vögeln. 1995, auf dem Höhepunkt von Addies Berühmtheit – oder
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