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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt
Autoren: Joyce Hinnefeld
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durch die Straßen Manhattans, in der ersten Hälfte der Nacht betrunken, in der zweiten nüchtern und mit großen Augen, verzückt. Als die zwei gegen Mittag in das Zimmer des Wohnheims zurückkehrten, das sie mit
Cora teilten, kochte ihre Freundin ihnen mit ihrem im Wohnheim nicht erlaubten Perkolator Kaffee. Lou ging daraufhin ins Bett und schlief bis zu ihrem ersten Kurs am Montagmorgen durch. Addie schloss sich in ihrem winzigen Atelier im baufälligen alten Gebäude des Kunstinstituts ein, wo sie wie besessen die Tauben malte, die sie auf den Stufen der New Yorker Stadtbibliothek gesehen hatte, und schließlich ein paar Stunden auf dem Sofa des Aufenthaltsraums schlief.
    In der letzten Aprilwoche, als der Unterricht von einer Woche Ferien unterbrochen wurde, hatten sich Cora und Lou bereits an die neue Addie gewöhnt. Addies Englisch-Tutor, Dr. Curtis, hatte seine Bemühungen aufgegeben, sie zum Abschluss ihres Lehrerexamens zu überreden. Ihr Freund war passé, und der Dekan hatte ihrem Antrag stattgegeben, den erforderlichen Pflichtkurs im naturwissenschaftlichen Bereich durch Biologie der Vögel abzudecken. An einem kleinen College wie Burnham blieben radikale Veränderungen bei einer Studentin wie Addie Sturmer nicht unbemerkt, und die Verwaltung beäugte die angehende Künstlerin nervös, nur allzu bereit, sie eilig durch den Rest ihres Studiums zu schleusen.
    Die Ferienwoche verbrachte Addie mit Lou, Cora und Coras Freund Karl, einem fleißigen Studenten des Ingenieurwesens, auf der Farm von Lous Eltern, wo sie ritt, exotische »Gourmet«-Mahlzeiten aß und unablässig zeichnete. Dann, früh am Morgen des dritten Mai, liefen die drei jungen Frauen zusammen einen sanft ansteigenden Weg durch das dunstige Wäldchen hinauf, das die Wohnheime von den universitären Einrichtungen des Campus trennte. Langsam, jede in ihre eigenen Gedanken versunken, näherten sie sich dem stattlichen Gebäude des naturwissenschaftlichen Instituts – für Cora ein zweites Zuhause, für Lou und Addie fremdes Territorium –, in dem Tom Kavanaghs Achtuhrvorlesung stattfinden würde.

    Als sie zwischen den Bäumen hervor auf den Seiteneingang des Baus zutraten, zwitscherte ein Vogel in einer hoch über ihren Köpfen aufragenden Eiche. Sein Gesang wurde von Lou, die, obwohl sie nach einer weinselig am Fluss verbrachten Nacht noch kaum wach war, ihr langes dunkles Haar zu einem kunstvollen Knoten geschlungen hatte und deren langsamer, geschmeidiger Gang von jedem schläfrigen männlichen Blick anerkennend registriert wurde, kaum wahrgenommen. Doch Cora – frisch verlobt und sehr verliebt – war hingerissen vom Klang der Vogelstimme, weil sie ihr wie ein herrliches Echo ihres eigenen Glücks an diesem frischen, sonnigen Morgen vorkam.
    Für Addie wiederum, die sich in diesem Augenblick gefragt hatte, was in aller Welt sie da eigentlich machte, war das Singen des Vogels eine Offenbarung. Sie blieb stehen, blickte hinauf in das dichte Astgeflecht, hoffte auf das Rascheln eines Flügels. Noch erkannte sie das betörende Lied nicht als das der Walddrossel. Für sie war es in diesem Moment die Stimme all ihrer namenlosen Sehnsüchte.

Drei
    Tom Kavanagh betrachtete die erwartungsvollen Gesichter, die ihn beim Betreten des Raums grüßten. So munter würden sie, das wusste er, die gesamten kommenden fünf Wochen nicht mehr sein. Es war eine große Gruppe für Biologie der Vögel : zwanzig tapfere Mitstreiter. Er überlegte, wie viele davon bei der zweiten oder dritten morgendlichen Exkursion noch übrig wären. Mehr als die Hälfte studierte Naturwissenschaften im Hauptfach, und den Großteil von ihnen kannte er. An einem kleinen College wie Burnham musste er sie zumindest in Zoologie unterrichtet haben, vielleicht sogar auch schon im Einführungskurs. Da war Cora Davis, ein nettes Mädchen, klug und zuverlässig, auf eine fröhliche Art und Weise hübsch. Gern erwiderte er ihr offenes Lächeln, und in diesem Moment bemerkte er die beiden Frauen neben ihr.
    Eine von ihnen, die man nur als dunkel und sinnlich beschreiben konnte und die träge ihre langen Beine unter dem Pult übereinandergeschlagen hatte, bedachte ihn mit einem unverhohlen anzüglichen Blick: erwartungsvoll in einem anderen Sinne. Es war ein Blick, den er inzwischen kannte, mit dem er sogar rechnete und den er in den vergangenen Jahren immer freundlich von sich hatte abprallen lassen. Wobei er sich jetzt kurz fragte, was wohl passieren würde, wenn er nicht
wie ein
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