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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt
Autoren: Joyce Hinnefeld
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POETISCHEN GEFÜHL, WAS DAS VERGNÜGEN ERHÖHT. ICH LIEBE ES, DIE NACHTIGALL ZURÜCKGEZOGEN IN IHREM HASELNUSSSTRAUCH UND DEN KUCKUCK IN DER EINSAMKEIT DES EICHENLAUBS VERBORGEN ZU SEHEN, ANSTATT IHRE KADAVER IN VITRINEN ZU UNTERSUCHEN. DOCH SCHEINEN DIE NATURFORSCHER UND BOTANIKER FÜR DIESES POETISCHE GEFÜHL NICHTS ÜBRIGZUHABEN.
    »Also. Jetzt sehen Sie sich diesen ›Kadaver‹ mal gut an«, er hob den ausgestopften Uhu hoch und stellte ihn dann krachend wieder auf den Schreibtisch, »der vorübergehend aus seiner ›Vitrine‹ entnommen wurde. Das ist ein Virginia-Uhu, männlichen Geschlechts, getötet und ausgestopft genau hier im Tal des Delaware-Flusses vor vierzig Jahren, von keinem Geringeren als meinem Vorgänger hier am Burnham College. Machen Sie sich sorgfältige Notizen. Halten Sie alles fest, was Ihnen dabei helfen könnte, diesen Vogel in Zukunft wiederzuerkennen. «
    Wie üblich begannen die Biologie- und Zoologiestudenten sofort zu schreiben, während die anderen das Tier hilflos eine Minute oder länger anstarrten, ehe sie zaghaft ein paar Worte notierten.
    Alle außer der blonden Frau, der »Künstlerin«, wie er sie inzwischen im Geiste nannte. Sie saß ganz still, hielt die Hände im Schoß, betrachtete den ausgestopften Uhu, warf hin und wieder einen Blick auf ihre Zeichnung und machte kleinere Korrekturen. Ihre forsche Freundin neben ihr deutete auf
das Bild und flüsterte etwas, woraufhin die Künstlerin mit einem Nicken reagierte und noch eine kleine Verbesserung anbrachte. Ihre Miene, als sie den Blick zu dem ausgestopften Tier hob, war für Tom immer noch absolut undurchdringlich. Soweit er das beurteilen konnte, zeigte sie nicht die Versenkung eines Menschen, der ein Forschungsobjekt sorgfältig studiert. Da war etwas anderes, und obwohl er es nicht genau einordnen konnte, glaubte er allmählich, es könnte so etwas wie Verachtung sein. Nicht für ihn, nicht für den armen Vogel, sondern mehr für die Aufgabe, die er dem Kurs erteilt hatte.
    Es erstaunte ihn, dass er diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht erkannte. Verachtung für die Praktik, etwas Getötetes und Ausgestopftes zu untersuchen, war exakt, was er selbst empfand. Doch in all seinen Jahren als Dozent war noch ausnahmslos jeder Student überrascht gewesen von dem, was er immer als Nächstes tat. Zum vernehmlichen Stöhnen all jener, die gerade erst ein Merkmal des Virginia-Uhus entdeckt hatten, das sie in ihre Hefte notieren konnten, hob er das Tier an seinem Sockel auf und steckte es zurück in den schwarzen Kasten, in dem er es hergebracht hatte.
    »Und das«, erklärte er, »ist das letzte Mal, dass Sie in meinem Unterricht einen ausgestopften Kadaver, mit oder ohne Vitrine, zu Gesicht bekommen werden.« Wieder warf er einen Blick auf die Künstlerin, suchte nach dem geringsten Lächeln der Komplizenschaft, doch ihr Kopf blieb gesenkt, das Haar schirmte erneut ihre Augen ab.
    »Morgen um Punkt fünf gehen wir von dem Weg hinter diesem Gebäude aus in den Wald«, fuhr er fort. »Um acht kommen wir zurück, dann haben Sie eine Stunde Zeit zu frühstücken, und um neun treffen wir uns wieder hier für die Vorlesung. Nachmittage und Abende sind dazu da, auf eigene Faust zusätzliche Exkursionen zu unternehmen und Ihre Feldtagebücher
zu pflegen. Mit den Worten des berühmten Ornithologen Joseph Grinnell: ›Keine Notizen am Tag, kein Schlaf in der Nacht.‹
    Ein Ratschlag, den Sie übrigens besser beherzigen sollten – mehr als alles, was ich Ihnen bisher heute erzählt habe, denn das wird, so viel kann ich Ihnen versichern, an keiner Stelle und zu keiner Zeit abgeprüft werden.« Noch mehr Gestöhne, neben einigem ungläubigen Ächzen. »Ich setze als gegeben voraus, dass Sie in diesem Kurs sitzen, weil Sie den Wunsch haben, gründlich und bedeutsam etwas über Vögel zu lernen. Falls Sie andere Gründe haben, möchten Sie vielleicht doch lieber im Studentensekretariat nachfragen, welche anderen Kurse noch frei sind.«
    An dieser Stelle ertappte er sich dabei, nicht die übliche verloren wirkende, Kaugummi kauende höhere Tochter in der letzten Reihe anzusehen und auch nicht ihren Freund, den gedankenlosen jungen Mann, der urplötzlich auf die Idee gekommen war, ein paar naturwissenschaftliche Grundkurse zu belegen, um in die Fußstapfen seines Vaters treten und eine Medizinerlaufbahn einschlagen zu können, sondern stattdessen die sinnliche Dunkelhaarige ganz vorne zwischen Cora und der Künstlerin. Er war überrascht, wie sehr
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