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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt
Autoren: Joyce Hinnefeld
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nachsichtiger Freund oder älterer Bruder (immerhin war er nur gute zehn Jahre älter als die meisten von ihnen) zurücklächeln, sondern den Blick mit gleichem oder gar größerem Interesse erwidern würde. Kommen Sie doch nach dem Unterricht in mein Büro, damit wir das weiter besprechen können .
    In jedem Fall war ihm dieser Gedanke schon flüchtig durch den Kopf gegangen, so wie die Dinge zu Hause standen. Polly war so rastlos und verbittert, immer wütend auf ihn, sie ärgerte sich über ihre Rolle als »Ehefrau von«, sehnte sich nach einer großen Stadt, nach einer Möglichkeit, ihre Sangeskarriere wirklich ernsthaft voranzutreiben.
    »Und wie sollte ein arbeitsloser Ornithologe in New York City Geld verdienen?«, hatte er sie im letzten Herbst gefragt, zunächst behutsam, in seinem wie immer vergeblichen Versuch, sie zu besänftigen.
    Nach ein paar weiteren Gläsern Wein dann hatte sie angefangen zu nörgeln, anders konnte man es nicht nennen, ihre zornige Stimme wurde lauter, erfüllte den Raum. »Für mich gibt es hier nichts. Ich bin dir doch völlig egal. Und wo bleibt deine glorreiche Karriere, hier in diesem Provinzloch in Pennsylvania, wo du doch nur die ganze Zeit deine kleinen Studenten hätschelst… was machst du denn, was so wertvoll ist, seit deiner Dissertation hast du kein Wort mehr geschrieben, und es sieht nicht so aus, als würdest du jemals wieder…«
    »Dann soll ich also diese Stelle auch opfern?«, hatte er geblafft, unfähig, seine Wut zu zügeln. »Ich soll meine Arbeit hier vergessen und dir nach New York folgen, ist es das? Und wovon sollen wir deiner Meinung nach leben – von dem Kleingeld, das du als Straßenmusikantin an der U-Bahn-Haltestelle verdienst? Oder hab ich den Anruf der Metropolitan
Opera verpasst, in dem sie dir eine Rolle angeboten haben? «
    Was sollte ihn abhalten?, dachte er nun, als er die ungenierte junge Frau neben Cora betrachtete. Dann fiel sein Blick auf ihre Sitznachbarin auf der anderen Seite. Langes blondes Haar fiel ihr in die Augen, der verfilzte Wollpulli rutschte von der Schulter: Boheme-Stil, aber irgendwie schien das nicht so recht zu ihr zu passen. Sie sah ihn demonstrativ nicht an, sondern in ein offenes Heft vor sich. Von Zeit zu Zeit hob sie die Augen, strich sich achtlos ein paar Strähnen aus dem Gesicht und betrachtete eingehend den ausgestopften Virginia-Uhu, den er vor sich auf den Schreibtisch gestellt hatte. Sie zeichnete den Vogel, und selbst aus der Entfernung konnte er erkennen, dass er gut getroffen war.
    Da bemerkte sie, dass er sie beobachtete, und erwiderte seinen Blick kurz. Ihre Miene war unergründlich. Sie war hübsch, aber in ihrem Gesichtsausdruck lag etwas Gequältes, was die meisten Menschen möglicherweise davon abgelenkt hätte. Sie blinzelte einmal und wandte sich dann wieder ihrer Zeichnung zu.
    Seit seinen ersten Tagen als Lehrbeauftragter war Tom vor einer Klasse nicht mehr nervös oder zerstreut gewesen. Jahrelang nun schon fühlte er sich in einem Raum voller Studenten vollkommen unbefangen und selbstbewusst, genau wie draußen im Feld beim Vögelbeobachten. Doch durch dieses kurze Blinzeln, als lenkte er sie von etwas viel Dringlicherem ab, hatte die blonde Frau ihn aus dem Konzept gebracht. Er sah auf seine Notizen und ordnete seine Gedanken. Dann drehte er sich um und schrieb zwei Sätze an die Tafel:
    ONTOGENESE REKAPITULIERT PHYLOGENESE. (Ernst Haeckel)
    und
    FAULPELZE! BREITET DIE FLÜGEL EURES GEISTES GEN HIMMEL AUS UND ERHEBT EUCH VON DER ERDE.
    STREBT NICHT DANACH, VÖGEL ZU FANGEN, SONDERN VÖGEL ZU WERDEN! (Petrarca)
    »Hier«, sagte er, als er die Kreide wieder ablegte und sich zu den Studenten umdrehte, wobei er sorgsam den gelegentlichen Blicken der jungen Frau ganz vorne links auswich, »haben Sie die beiden Pole, zwischen denen dieser Kurs seinen feinen Draht spannen wird. Ich bin Ornithologe und außerdem Musiker und Liebhaber von Gedichten. Kein Studium dieser erhabenen Geschöpfe, die wir ›die Vögel‹ nennen«, und an dieser Stelle begann er, wie immer, im Raum auf und ab zu laufen, warm zu werden, in Fahrt zu kommen, »dieser fantastischen Wesen mit ihren hohlen Knochen … wussten Sie, dass ihre Knochen hohl sind?« Absichtlich war er auf die rechte Seite des Zimmers gelaufen und vor dem Pult einer emsig mitschreibenden Studentin stehen geblieben, die nun lange genug innehielt, um den Kopf zu schütteln.
    »Aber es stimmt! Hohle Knochen. Stellen Sie sich vor, was das bedeutet. Kraft und
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