Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt
Autoren: Joyce Hinnefeld
Vom Netzwerk:
Leichtigkeit. Flugfähigkeit und Sicherheit. Diese Tiere schweben zu anmutig zwischen dem Praktischen und dem Launenhaften, zwischen dem Rationalen und dem köstlich Widersinnigen, als dass irgendein Betrachter ihrer Physiologie, ihres Habitats, ihrer Geschichte es wagen dürfte, zu lange an einem der Pole zu verweilen, dem streng ›wissenschaftlichen‹ oder dem rein ›poetischen‹.«
    »Und darüber hinaus«, fuhr er fort, ging zurück zur Tafel und deutete darauf, »obwohl Haeckels Theorie der Rekapitulation heute weitgehend als widerlegt gilt, ist es die Evolutionstheorie
mitnichten , meine Freunde, wie die Gegenstände unserer Forschung, unserer Beobachtung, ja sogar unseres Begehrens «, hier riskierte er einen flüchtigen Blick auf die beiden Frauen neben Cora Davis, da er spürte, dass diese letzte Behauptung sie beide erreichen würde, »wie diese faszinierenden Geschöpfe mehr als deutlich machen.« Nun hielt er inne, wie er es immer an diesem Punkt seiner Einführung tat, stand plötzlich ganz still und senkte die Stimme. Das Kratzen der Stifte verstummte, wie es immer passierte, und sämtliche Mienen wandten sich ihm erwartungsvoll zu.
    »Das muss Ihnen klar sein«, fuhr er dann beinahe in einem Flüstern fort; er wollte ihr Verlangen nach Dramatik in diesem Moment nicht enttäuschen. »Sollten Sie irgendwelche kindischen und wenig fundierten Vorstellungen von den ›Übeln‹ der Evolutionsforschung mit sich herumtragen, was Sie, wie man hoffen möchte, spätestens nach Ihrem ersten Jahr am College gewiss nicht mehr tun, dann gehören Sie nicht in diesen Kurs. Eine solche Einstellung wäre für Sie hier ein furchtbarer Nachteil. Ganz genauso problematisch wie die mangelnde Bereitschaft, bei Tagesanbruch aufzustehen, um sich den Vögeln in ihrem morgendlichen Weckruf und Gesang zuzugesellen.«
    Hier machte er eine Pause, zitternd, wie immer an dieser Stelle. Selbst jetzt, zehn Jahre, nachdem er Irland 1955 verlassen hatte, verliebt in die Musik und die Landschaft seiner Heimat, aber aufgerieben von der Anstrengung, seine Erregung über alles, was er gelernt hatte, zu unterdrücken – über die Natur, über das Leben der Geschöpfe, die er beobachtet, denen er gelauscht, in die er seit seiner einsamen Kindheit vernarrt war –, selbst jetzt spürte er es. Einen gewaltigen inneren Aufruhr und vielleicht auch einen Hauch von Furcht, wenn er seinen Studenten so kühn verkündete: »Die Welt ist älter, als eine strenge Auslegung des Buchs Genesis es zulässt. Dafür gibt es
unwiderlegbare Beweise. Vögel haben sich aller Wahrscheinlichkeit nach aus prähistorischen Kreaturen entwickelt, von denen manche nicht einmal fliegen konnten. Sie sind die emporsteigende, wohlklingende Bestätigung der natürlichen Selektion, unleugbar, überall, nicht zu übersehen. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis : Ich liebe die Musik und die Dichtung, die sie inspirieren, aber ich werde nicht den kleinsten Versuch zulassen, ihre beinahe mystische Schönheit in religiöses Dogma zu verdrehen.«
    Die Macht, das zu verkünden, darauf zu bestehen, nach seiner stillen Jugend, nach Jahren, in denen er schweigend die kirchliche Leugnung all dessen, was seine Sinne ihm klar vor Augen führten, akzeptiert hatte, machte ihn jedes einzelne Mal fast schwindlig.
    Nun, da er seine Botschaft vermittelt hatte, kehrte er zu seinem Pult und seinen Notizen zurück, um die Feinheiten der Rekapitulationstheorie herauszuarbeiten. Aller Augen waren auf ihn gerichtet, das wusste er, alle Stifte schwebten abwartend über dem Papier. Alle außer dem der blonden Frau, die die ganze Zeit über weitergezeichnet hatte. Dann stürzte Tom sich in seinen Vortrag, und das fieberhafte Gekritzel wurde wieder aufgenommen.
    Er widerstand dem Drang, angesichts dieses verzweifelten Mitschreibens laut zu lachen. Als gäbe es einen Weg, die Art von Wissen abzuprüfen, die er ihnen zu vermitteln versuchte. Als hätte er vor, sie darüber zu prüfen. Als würden ihre Leistungen in diesem Kurs je anhand anderer Kriterien als ihrer Aufmerksamkeit im Feld und der Ernsthaftigkeit und Zuverlässigkeit ihrer Feldtagebücher beurteilt.
    Um den trockeneren, wenn auch unerlässlichen Hintergrund von Haeckel, Darwin und Alfred Russell Wallace abzuschließen und damit sie noch mehr manisch (und sinnlos) in
ihre Hefte zu notieren hatten, las er ihnen eins seiner Lieblingszitate vor. Es stammte von dem Dichter John Clare:
    ICH PERSÖNLICH BETRACHTE DIE NATUR AM LIEBSTEN MIT EINEM
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher