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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt
Autoren: Joyce Hinnefeld
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ihres berüchtigten Rufs, je nach Betrachtungsweise –, hatte das Buch einen kleinen Literaturpreis gewonnen. Das war ein Jahr, nachdem Addie sich mit ein paar Leuten in Washington wegen einer Installation, die unter anderem zwei gekreuzigte Möwen zeigte, angelegt hatte.
    Seit Jahren drängt Scarlets Lektor Alex sie dazu, ihre Erinnerungen zu Papier zu bringen. »Das wäre ein logischer Schritt für dich, bei all der Präsenz deiner Mutter, ihrer Bedeutung für deine Gedichte, den ganzen Querverbindungen«, hat er ihr wiederholt zugeredet. »Und offen gestanden«, scheint er immer zu ergänzen, »ist das der einzige Weg für dich, als Schriftstellerin Geld zu verdienen.«
    Doch Scarlet hat, wie sie Alex schon viele Male erklärt hat, keine Ahnung, wie man so etwas angeht. Manchmal hat sie versucht, sich die Geschichte ihres Lebens in Form eines Theaterstücks vorzustellen. Nun, da sie im rosa-grauen Licht der Morgendämmerung auf Coras Veranda sitzt, erwägt sie, mit dem in der Nähe versammelten Personal anzufangen:
    Der Ehemann, Tom, kaum erkennbar am südlichen Ende des Strands, das Spektiv auf das hundert Meter entfernte Nest eines Regenpfeifers gerichtet.
    Addies beide Freundinnen aus Collegetagen, Cora und Lou, hinter den Kulissen mit wer weiß was beschäftigt. Cora backt wahrscheinlich. Lou ist vielleicht beim Einkaufen.
    Und dann gibt es noch Dustin, den jungen Mann, der vor
dem Fenster zu Coras Werkstatt arbeitet, alte Scheunenbretter zurechtsägt, hobelt, hämmert und daraus so etwas wie einen Sarg zimmert. Eine sinnvollere Ergänzung wäre sicherlich Addies Bruder John. Aber der ist in Scranton, wahrscheinlich bei der Arbeit. Scarlet fragt sich, ob Tom ihn überhaupt anrufen wird. Seit ihrem Collegeabschluss hat sie ihren Onkel nicht mehr gesehen. Statt eines Bruders und eines Onkels, denkt sie, hat ihre Familie Dustin, den Sargtischler.
    Und schließlich ist da noch Scarlet selbst: eine ehemalige Dichterin, in einen Schlafsack gewickelt auf der kalten Veranda, auf der sie die Nacht verbracht hat, weil in ihrem Zimmer oben zu viele Erinnerungen lauern. Scarlet, die gegen den Drang ankämpft, sich eine der Zigaretten zu nehmen, die Lou liegengelassen hat, die nicht einmal Kaffee trinkt, wie wild in einem Notizbuch kritzelt und den anderen dadurch vorgaukelt, sie verfasse beredte, schwermütige Gedichte.
    Wo sie doch in Wahrheit versucht, eine geeignete Form für ihre Lebenserinnerungen zu finden. Was sich, da sie doch eigentlich lieber Gedichte schreiben würde, für Scarlet wie eine Art Verrat anfühlt – an Addie, an Tom, an allen. Wie um alles in der Welt könnte sie die verstreuten Fäden all dieser Menschen zusammenführen?
    Bisher hat sie nur eine Liste möglicher Titel zustande gebracht. Einer davon ist Zugunruhe , der auch in vielen anderen Sprachen benutzte deutsche Fachbegriff für die Rastlosigkeit von Zugvögeln unmittelbar vor ihrer Wanderung und gleichzeitig Toms liebevolle Umschreibung der vergangenen zwölf Jahre in Scarlets Leben, in denen sie sich langsam die Ostküste entlang Richtung Süden bis nach New York tastete. Es war eine Wanderung, die immer wieder von kurzen Aufenthalten an der Küste New Jerseys unterbrochen wurde – einem Ort, der plötzlich, erneut, Heimatgefühle weckt.

    Aber das wäre Scarlets Leben, nicht Addies, und Addies Leben ist es, an dem Alex und andere wirklich interessiert sind. Die Jahre, in denen Scarlets Wanderung stattfand, von 1990 bis zu diesem kühlen und verwirrenden Frühling 2002, waren für Addie relativ ruhig. Hatte ihre Mutter irgendwie den Atem angehalten, sich gezügelt, abgewartet, wie weit nach Süden und wie nah an diesen verbauten Küstenstrich Scarlet fliegen würde? Hatte sie diese letzten Jahre, bis ihre Tochter endgültig flügge war, geduldig verstreichen lassen vor ihrem nächsten – und letzten – großen Coup?
    Eines, was Addie in jenen Jahren unternahm, war, ihre erste Krebserkrankung auf die konventionellste Weise zurückzudrängen : zwei Runden Chemotherapie, ein bisschen Bestrahlung. Nicht viele Menschen wissen das. Weit mehr Leute haben von dem zweiten, viel aggressiveren Auftreten der Krankheit gehört, dem, das sie nicht zu bekämpfen beschloss.
    Es gäbe noch einen weiteren denkbaren Titel für eine Geschichte über Addie Kavanagh: Feldnotizen .
    Scarlet hat Zugang zu allen Notizbüchern ihres Vaters und fast allen ihrer Mutter, allesamt ordentlich in schwarzer Tinte auf losen Ringbucheinlagen im Format 15,2 x 24,1 cm –
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