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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt
Autoren: Joyce Hinnefeld
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weiß, dass der Krebs zurück ist. Ich werde es dir in einer Woche oder so erzählen. Aber mit der üblichen Behandlung möchte ich nichts zu schaffen haben.
    Ich glaube, ich würde gern in Cider Cove sterben. Cora hat eine Art Frieden mit dem Tod geschlossen. Sie hatte ja keine andere Wahl. Du und Scarlet werdet das auch tun, aber ich möchte euch beiden das nicht aufzwingen, indem ich langsam am Ufer eurer geliebten Bäche sterbe. Cora und Lou können anfangs einspringen, und ihr könnt zum Leuchtturm oder in die Marsch entfliehen, wann immer ihr das Bedürfnis habt. Falls es sich in die Länge zieht, sollte unsere Krankenversicherung eine Hospizpflege abdecken, hat man mir gesagt; wenn das nicht ausreicht, dann verkauf ruhig Der Nil an die Driscolls
oder die Lloyds oder von mir aus an Lou, wenn sie darauf besteht (womit ich fest rechne, obwohl Gott allein weiß, warum. Na ja, Gott und ihr beiden).
    Ich mache mir Sorgen, dass Scarlet glauben wird, sie müsste mich pflegen, wenn es schlimmer mit mir wird. Sie soll mich bitte gern besuchen, sooft sie kann, aber lass sie das nicht tun. Sag ihr, sie soll sich um ihre Arbeit und ihr Leben in New York kümmern.
    Ich hoffe, mir bleibt noch ein bisschen Zeit, vielleicht um ein wenig zu reisen. Um weiterhin mit dir in den Wald zu gehen. Unsere Decke unter den Bäumen auszubreiten und uns zu lieben, als wäre es wieder 1965. Heute Morgen im Cottage hast du ganz genauso ausgesehen und gerochen und dich angefühlt wie damals.
    Es ist komisch, woran ich mich in letzter Zeit erinnere. Nicht an die Dinge, die man erwarten würde. Ich habe viel an meine Eltern gedacht, daran, dass meine Mutter immer so gern in der Stadt wohnen wollte, oder wenn sie schon nicht dort leben durfte, dann wollte sie wenigstens dort begraben sein. Und ich habe mich an meinen Vater erinnert, der immer die Gräber auf dem Acker neben dem kleinen Feld meiner Eltern pflegte. Weißt du noch, als ich sie dir gezeigt habe? Es sind nur fünf oder sechs flache, alte, kleine Grabsteine und eine verwitterte Engelsstatue, genau in der Mitte eines Maisfelds.
    Es machte Mutter wahnsinnig, dass er so ein Theater um diese Gräber machte, das Unkraut rundherum zupfte, den Schmutz abwischte. »Ein verrückter alter Slowake, der die Gräber irgendeiner armen, uralten deutschen Familie abstaubt, die er noch nicht mal kannte«, pflegte sie zu sagen.
    Aber ich habe ihn dafür bewundert. Oft habe ich mir gewünscht, man hätte ihn ebenfalls dort beerdigen können.
Doch natürlich hätte Mutter das niemals geduldet. Außerdem gehörte ihnen der Acker ja nicht mal. Trotzdem sollte ein Mensch doch am Ende an einem Ort ruhen dürfen, den er geliebt hat.
    Seltsam, nicht wahr, wie sentimental ich geworden bin! So ungefähr war ich wohl damals, als wir uns kennenlernten.
    Wenn du möchtest, gib Scarlet meine Notizbücher, nachdem du sie gelesen hast. Meine Empfehlung an Joseph Grinnell, aber ich glaube nicht, dass ich noch mehr Einträge schreiben werde.
    Hier ist die Skizze des Goldhähnchens. Vielleicht reicht das, um weiterzumachen; vielleicht schaffe ich, es auch noch zu malen.
    Ich liebe dich mehr als je zuvor, Tom.

Einundzwanzig
    In den Jahren seit Addies Tod hält sich unter einem kleinen Kreis passionierter Umweltschützer und Liebhaber sowohl ihres Früh-, als auch ihres Spätwerks hartnäckig die Überzeugung, dass sie irgendwo auf den einhundertzwanzig Hektar des neuen Naturschutzgebiets rund um das Burnham College begraben liegt – dass sie sich zum Zeitpunkt ihres prinzipientreuen Todes für eine ebenso prinzipientreue und einfache Beerdigung entschied. Innerhalb dieser Gruppe verbreiteten sich schnell Gerüchte, beispielsweise über einen Kühlwagen, der kurz nach Addies Tod unweit ihres Hauses gesichtet worden sein soll, oder über Toms Behauptung, die Sterbeurkunde aus New Jersey verloren zu haben, als die örtlichen Behörden in Pennsylvania Nachforschungen anstellten.
    An den meisten Tagen kann man ein paar von Addies Jüngern – das ein oder andere Birkenstock tragende Greenpeace-Mitglied hier, einige gepiercte und befremdliche Bewunderer ihrer Assemblagen dort – über die Wege des Addie Sturmer Kavanagh Preserve wandern sehen, auf der Suche nach ihrem Grab.
    Andere, zum Beispiel eher rationale Typen wie die Vogelbeobachter, ob nun Amateure oder Profis, die den Naturpark ebenfalls frequentieren, betrachten diese Geschichte als Mythos,
als eine Art moderne Sage – ähnlich wie die oft erzählte Mär, Addie
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