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Die Entdeckung des Lichts

Die Entdeckung des Lichts

Titel: Die Entdeckung des Lichts
Autoren: Ralf Bönt
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Prolog: Der Brief
    Sarah Faraday konnte oben in der Wohnung die Dielen nicht knarren hören, die sich unten im Magnetischen Laboratorium unter den Schritten ihres Mannes bogen. Das blieb den Ratten des Hauses vorbehalten. Den Alltag im Keller kannte sie aber genau. Sie glaubte, bis in die Geräusche und Gerüche daran teilzunehmen, während sie die Laute der Straße schon lange nicht mehr bewusst wahrnahm: Pferdehufe, Pferdeschnaufer und manchmal Gewieher, Wagenräder auf den Kopfsteinen, die kurzen Kommandos der Kutscher, ihre Glocken und das Ächzen der Kutschgestelle, das Prasseln des Regens oder sein Rieseln, das Hämmern aus der Werkstatt schräg gegenüber, vereinzeltes Kinderlachen, das Geschrei eines Säuglings und sehr junge Laufburschen, die sich Vulgäres zuriefen und nichts vom Leben zu wissen schienen.
    Frühe Schritte auf der Treppe zu ihren zwei Zimmern unterm Dach wären ein schlechtes Zeichen gewesen und hätten sie sofort aufhorchen lassen.
    Wenn sie Faraday in den ersten Abendstunden wegen seiner zeitraubenden Korrespondenz nicht sah, war das nicht wie während des langen Tages. Obwohl sie mit einem Ohr immer zur Treppe und nach unten lauschte, weil sie auf ihn wartete, kam sie abends zur Ruhe. Das hatte sich in den letzten Jahren nicht wie so vieles andere verändert. Schrieb er, so war alles gut.
    Er schrieb täglich, seit er im Sommer 1812 seinem Jugendfreund Benjamin Abbott von einem Gentleman berichtet hatte, der eine umfangreiche Korrespondenz führte. Aus Sizilien und Frankreich erhielt dieser Mann Post, und solches Briefeschreiben, fand Faraday damals, musste doch das pure Vergnügen sein. Es verbessere erstens die Handschrift, schrieb er seinem Freund, und zweitens die ... und hier stockte Faraday, denn das benötigte Wort fiel ihm nicht ein. Er erklärte Abbott, wie oft ihm dies passiere, wie oft ihm das benötigte Wort nicht einfalle. Ein paar Sekunden waren vergangen, dann stand ihm das gerade fehlende plötzlich doch zur Verfügung: Zweitens verbessere es den Ausdruck, die Fähigkeit zu formulieren, die Kunst, Worte zum Klingen zu bringen.
    Er hatte die Wortfindungsprobleme ignoriert, indem er fortfuhr, als ob er ohne Unterbrechungen schriebe: Briefe zu verfassen schule drittens den Geist durch den Austausch von Wissen, schärfe viertens die Ideen, die im Kopf entstünden und beim Aufschreiben erst klar würden, stärke fünftens die Moral. Er habe keine Zweifel – lieber Abbott! –, dass es noch mehr Vorteile als die eben aufgezählten gebe, weshalb er vorhabe, in Zukunft selbst Briefe zu schreiben.
    Das hatte er getan, immer am frühen Abend und im Stehen, bis jetzt, im Spätsommer 1845, als er im Keller auf das leere Blatt sah und die Tageszeit ein Gefühl war. Faraday hatte keine Uhr, und hätte er eine gehabt, sie wäre auch nicht genauer gewesen als die Kirchenglocken, die mal läuteten und mal nicht. Er vertraute deshalb seiner Schätzung, die er tagsüber anhand der Färbung der Wolken machte. Mit schräg gehaltenem Oberkörper und eingezogenem Kopf konnte er sie durch das Oberlicht in einem kleinen Ausschnitt des Himmels sehen. Nach Sonnenuntergang, wenn die Scheibe innen beschlagen war oder wenn außen Regen und Spritzwasser von der Straße darauf stand, vertraute er seinem anfangs gut funktionierenden Empfinden für den verstrichenen Zeitraum. Nur manchmal hatte er Lust, seine Schätzung mit der Zahl abgebrannter Kerzenstummel zu bestätigen. Die Kerzen waren zusammen mit den zwei Wohnräumen unterm Dach, genügend Schürzen, Heizkohle und ein bisschen Geld in diesen ersten Jahren seine Entlohnung durch die Royal Institution , und er führte über sie nicht Buch.
    Wenn Faraday überlegte, lief er um sein Stehpult herum. Die Feder an den Lippen und den Blick abwechselnd auf die Schuhspitzen und an die Decke geschickt, trat er plötzlich wieder an das Pult heran, um weiterzuschreiben. Das war am Anfang so gewesen, und jetzt war es noch immer so. Aber sonst war nichts wie am Anfang. Er hatte den außergewöhnlichsten aller seiner Briefe vor sich, jenen, von dem Sarah nichts wissen konnte und der spätestens in den Händen der Empfängerin zu einem Abschiedsbrief werden sollte.
    Auf der groben Tischplatte waren wie immer offene Schalen und Glaskolben verteilt, darin Reste von Salzsäure und Quecksilber. Tagsüber hatte Faraday an den Gasgesetzen gearbeitet.
    In seinem Tagebuch fragte er sich, wie die Übergänge der Metalle Quecksilber, Zink und Kalium, die in flüssigem
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