Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition)
Autoren: Thorsten Nesch
Vom Netzwerk:
Beide Seiten der Jacke lagen offen zurückgeschlagen. Ich suchte die linke Innentasche. Das war nicht leicht, denn ich musste mich dazu weit vorbeugen, ohne mich auf ihm abzustützen. Ich fand über uns einige Schläuche, an denen ich mich mit einer Hand wie an den Deckenschlaufen einer U-Bahn festhalten konnte.
      Mit der verletzten Hand befühlte ich die Innentasche und schüttelte sie, ob sich das schwere Metallfeuerzeug in ihr befand. Auch wenn ich danach überzeugt war, dass dem nicht so war, suchte ich in der Tasche, um ganz sicher zu sein. Ich fand ein Plastiketui, vielleicht für Ausweis und Führerschein, und steckte es in meine Brusttasche zu der Schokolade, dem Ausweis der Frau Doktor und meinem Abschiedsbrief. Die Tasche beulte sich weit aus. Den Kugelschreiber hatte ich verloren.
      Währenddessen hielt ich mich mit einer Hand über dem Kopf fest. Durch die Anstrengung platzte meine Halswunde wieder auf, feucht und warm floss es in meinen Kragen.
      Ich hob die andere Seite der Jacke an, auch hier gab es eine Innentasche. Sie war schwerer, ich griff hinein und holte das Zippo heraus.
     
     
    Ich klappte den Metalldeckel auf und spürte mit meinem Daumen das Zündrad. Der erste Versuch schlug fehl. Außer einem kurzen Aufblitzen konnte ich dem Feuerzeug keine Flamme entringen. Doch obwohl ich mich auf das Zippo konzentriert hatte, erkannte ich den schwach und nur für einen Sekundenbruchteil illuminierten Schemen von Herrn Baehr.
      Ich schüttelte mich. Vielleicht mochte auch meine klatschnasse Kleidung daran schuld sein, aber die Phantasie kann einem übel mitspielen, wenn man lediglich einige Umrisse erkannt hat und das Bild alleine von der Vorstellungskraft vollendet wird.
      Vorsichtig drehte ich das Zündrad, und mit einem Fauchen entzündete sich die benzingetränkte Watte des Feuerzeugs. Mit aufgerissenen Augen sah ich meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Aus der Hocke sackte ich in eine kniende Position. Flache Wellen schwappten seitlich an seinen Oberkörper. Um das Ausmaß der Verletzungen von Herrn Baehr zu erkennen, hielt ich das Zippo von meinem Gesicht weg und ließ meine Augen auf seinem geschundenen Körper ruhen.
      Der ohnmächtige Herr Baehr war schlimmer verletzt, als ich geglaubt hatte. Angesichts der Schwere seiner Verletzungen wich jede Hoffnung, dass er diese Katastrophe überleben könnte. Ich konnte ihm nur noch Gesellschaft leisten. Tränen schossen mir in die Augen, mein Hals zog sich zusammen, ich schluckte. 
      Ohne Zweifel waren beide eng aneinander liegenden Beine unterhalb der Knie bis zu den Knöcheln von dem massiven Stahlträger zermalmt. Eine dunkle Blutlache breitete sich zu beiden Seiten seiner Beine im schlammigen Wasser aus.
      Seine beiden Arme lagen weit ausgestreckt vom Körper, als wollte er einen kleinen Enkel empfangen, der auf ihn zuläuft. Bewegen konnte er sich tatsächlich nicht. Durch die Handfläche seiner Linken hatte sich eine Haltestange gebohrt, deren oberes Ende in der Trümmerdecke verschwand. Ich sah seine Armbanduhr und beugte mich über sie. Das Zifferblatt lag im Schlamm. Es fiel mir schwer, nicht auf die Wunde zu schauen. Ich wollte meinen Versuch, die Zeit zu erfahren, schon abbrechen, aber die Neugier überwog, und ich drehte mit zwei Fingern die Uhr am Handgelenk herum. Es war eine silberne 90er Jahre Digitaluhr, ohne Zeiger, und die Anzeige stand auf 00:00 eingefroren. Sinnlos drehte ich sie wieder zurück, als wollte ich einen Einbruch in seine Privatsphäre vertuschen. Herr Baehr hatte sich während der ganzen Zeit nicht gerührt.
      In seinem rechten Handgelenk, am Ansatz von Elle und Speiche steckte ein riesiger Splitter Holzimitat. Einen Meter ragte er aus dem Handgelenk, geformt wie ein gefrorener Blitz aus Plastik. Gegen ihn musste ich mit meinem Kopf gestoßen sein, er musste die Schmerzen ausgelöst haben, die Herrn Baehr in die Ohnmacht entlassen hatten. Ich hatte nicht länger vor, ihn aufzuwecken.
      Wenn er bei Bewusstsein war, musste er starke Schmerzen haben. Sein hellbeigefarbenes Hemd lag blutfeucht auf seiner Bauchdecke. Auch dort klaffte eine Wunde, ich sah den handflächenlangen Schnitt im Stoff, und das reichte mir. Unangemessen fand ich das akkurat zugeknöpfte Hemd mit dem altmodischen Schlips.
      Sein Gesicht war das eines alten Mannes, ich hatte ihn mir trotz allem jünger vorgestellt. Altersflecken bedeckten seine Haut, die Hände, die Arme, die eingefallenen Wangen, und das weiße Haar war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher