Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition)
Autoren: Thorsten Nesch
Vom Netzwerk:
gemeldet.“
      „Kommt auf die Verletzung an.“
      „Und es war regelmäßig!“
      „Oder Sie haben sich das eingebildet.“
      „Bis vorhin haben Sie Zuversicht versprüht“, sagte ich.
      „Ich möchte nur nicht, dass Sie sich zurücklehnen und auf Hilfe warten.“
      „Keine Sorge“, ich lächelte ihn schwach an, und er lächelte zurück, eine Geste, die nicht zu seinen Verletzungen passte.
      „Ich klopfe noch einmal, vielleicht antworten sie wieder. Dann hören Sie es selbst.“
      „Tun Sie das.“
      Ich klopfte viermal hintereinander und wiederholte meine Anstrengungen, weil niemand zurückklopfte, bis Herr Baehr sagte, „Nun hören Sie endlich auf, mir tun schon die Ohren weh.“
      Ich legte die Metallscheibe auf eine Erhebung über dem Wasserspiegel und stellte das brennende Zippo darauf ab. Als Nächstes fischte ich mit zwei Fingern die Schokolade aus der Brusttasche. Mein verklebtes Testament und die anderen Sachen stopfte ich wieder zurück.
      „Was haben Sie da?“, fragte Herr Baehr.
     Ich faltete die schlammverschmierte Verpackung auf. Das Plastik knisterte überlaut in der Stille.
      „Was für die Seele. Haben Sie Hunger?“
      „Ja. Was ...?“
      „Schokolade“, sagte ich und rieb den Riegel am Ärmel ab, so sauber wie möglich.
      „Das ist eine Überraschung“, aber sein Gesichtsausdruck wechselte in einem Augenblick von erfreut zu verbittert, „Essen Sie!“
      „Nein.“
      „Doch.“
      „Das kommt gar nicht in Frage.“
      „Was soll ich denn noch mit Schokolade?“
      „Herr Baehr!“
      Er öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, aber ich kam ihm zuvor, „Bitte! Ich hatte meinen Anteil schon.“
      „Brechen Sie den Riegel entzwei. Teilen wir, ich bitte Sie.“
      „Herr ...“
      „Ich bestehe darauf.“
      Ich wusste, es war unmöglich ihn zu überzeugen, also brach ich die kalte Schokolade mitten durch. Langsam führte ich das Stück zu Herrn Baehrs Mund. Seine Augen verfolgten an seiner Nase vorbei die Schokolade in meiner Hand.
      „Das ist aber nicht Nuss, oder?! Nüsse sind nicht gut für das Gebiss.“
      „Nein“, sagte ich, „Es ist Vollmilch.“
      Als die Schokolade in seinem Mund verschwand, schloss er die Augen. Gemeinsam genossen wir den süßen Geschmack im stillen Feuerschein des Zippos. Ich hörte das Kauen und Schlucken der Süßigkeit durch unsere geschlossenen Lippen.
      Schweigend blickten wir beide das Benzinfeuerzeug an, als wäre es eine Adventskerze.
      In unser Schweigen sagte Herr Baehr, „Machen Sie das Zippo aus, vergeuden Sie nicht das Benzin.“
      „Nein, jetzt nicht.“
      „Ich fülle es jeden Montagmorgen nach. Es ist Freitag. Viel Benzin kann nicht mehr drin sein.“
      „War es jemals früher leer?“
      „Nein. Dann hätte ich angefangen, es zweimal die Woche nachzufüllen.“
      „Das macht Sinn.“
      Ich schaute nach oben, als bestünde die Möglichkeit, dass sich genau über mir eine Öffnung in die Freiheit befinden würde.
      „Rauchen Sie, Herr Baehr?“
      „Zigarillos. Aber nur zum Kaffee und zu den Heute-Nachrichten.“
      Ich zog sein Etui aus meiner Brusttasche hervor.
      „Das habe ich gefunden, als ich nach Ihrem Zippo gesucht hatte.“
      „Ein Geschenk meiner Frau.“
      Wir schauten einander in die Augen.
      „Möchten Sie jetzt rauchen?“, fragte ich.
      „Kaffee haben wir nicht“, sagte er, „Was sind die Nachrichten?“
      Er lächelte gequält, und ich öffnete die kleine Klappe. Fünf Zigarillos schwammen aufgedunsen im Wasser. Ich war enttäuscht, ich hätte es ihm gegönnt.
      In diesem Moment richtete sich der Blick von Herrn Baehr in eine Ferne, die es hier nicht gab.
      Ein gedehnter Seufzer entwich seinen spröden Lippen, „Oh Gott ... lieber Gott ... nein, nein, nein ...“, stöhnte Herr Baehr, und sein Oberkörper bäumte sich trotz der Trümmerlanzen in seinen Armen gegen die Schmerzen auf.
      Vorsichtig legte ich meine Hand auf seine Schulter, „Wir werden gerettet, das waren vorhin ganz sicher die Rettungsmannschaften, die sind ...“
      Er rollte die Augen nach oben, „Lieber Gott, verzeih ... meinen eigenen Vater ... ich habe meinen eigenen Vater verraten. Verzeih mir Vater ... Gott, steh mir bei ...“
      Sein Körper sank wieder zurück, laut klatschte das Wasser unter seinem Rücken.
      „Was erzählen Sie da, Herr Baehr?“
      „Die Wahrheit. Die schreckliche Wahrheit.“
      Tränen erstickten seine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher