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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition)
Autoren: Thorsten Nesch
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beherrschte ich mich, rückte seinen Kopf grade und schloss mit zittriger Hand nacheinander seine alten Augen, die so viel gesehen hatten.
     
     
    Herrn Baehrs Gesichtszüge trugen eine erhabene Friedlichkeit. Sie standen im harschen Kontrast zu der brutalen Gewalt, durch die er zu Tode gekommen war. Für einen Moment dachte ich wieder daran, den großen Splitter aus seinem Handgelenk zu ziehen, aber welchen Unterschied würde es machen? Seine gekreuzigte Position verlieh ihm etwas Heiliges.
      Trauer brach über mich herein, überraschend, immerhin war Herr Baehr ein Fremder, wohlmöglich, weil er der einzige Mensch bei mir hier unten gewesen war.
      In meinem Gefühl der Trauer schlummerte auch Mitleid mit mir selber, alleine gelassen worden zu sein. Niemand zum Reden, keine Ablenkung, von nun an herrschte eine Stille, die noch kälter erschien als zuvor.
      Die Trauer unterschied sich von der Trauer, die ich aus der Zeit kannte, als meine Mutter starb, zu früh, an Alzheimer. Das unsägliche Jahr, in dem sie mich nicht mehr erkannte.
      Der Blick von ihr, bevor sie starb, beseelt durch einen flüchtigen Moment der Erkenntnis, als sie mich ansah wie früher, wenn sie mich zur Schule schickte und sagte, ich solle aufpassen. Wahrscheinlich rührte ihr Blick daher, dass ihr Leben an ihr vorbeizog und sie ihren Sohn erkannte. Vom Gefühl damals, als reiße mir jemand das Herz heraus, unterschied sich heute die Qualität der Trauer.
      Wut mischte sich in die Enttäuschung über meine Situation, diese ewig kauernde, krumme Körperhaltung, die einen alleine schon wahnsinnig machte, weil man sich nirgends hinstellen und strecken konnte.
      „Haben Sie mich deswegen hierher gelockt? Sie haben mich doch nur zu sich gelotst, um beim Sterben nicht alleine zu sein. Wären da oben mehr Leute gekommen? Ihre Schwestern wohl nicht, ihre Kinder nehme ich an.“
      Warum ich, wollte ich rufen, aber es reichte nur für einen weiteren abgehackten Schrei, um den aufgestauten Druck in mir abzubauen. Danach schüttelte sich mein ganzer Körper, weniger aus Kälte oder Ekel, sondern vielmehr aus einem verzweifelten Versuch heraus, sich so von der Anspannung zu befreien. Erbärmlich nur, dass sich mein Körper dabei verhielt wie ein nasser Hund, der sein Fell trocken schüttelt.
      „Lassen mich alleine. Sie lassen mich hier einfach alleine.“
      Das Wasser bedeckte mittlerweile die Ohren von Herrn Baehr. Auf der einen Seite konnte mich der Anblick in seinen Bann ziehen, auf der anderen Seite erinnerte er mich an meine eigene Situation.
      „Lieber Gott, sei seiner Seele gnädig“, hörte ich mich sagen.
      Sagte man das so? Der Satz kam einfach über meine Lippen, ungewollt. Herr Baehr hätte ihn gewiss gerne gehört, vermutete ich. Wir hatten uns gar nicht über Gott unterhalten, aber sicherlich war er getauft. Evangelisch oder katholisch. Was machte es aus, es war der gleiche Gott. Auch ich war getauft, aber nur auf Papier. In der Kirche war ich das letzte Mal bei dem Begräbnis meiner Mutter, davor bei meiner Konfirmation, und nun kniete ich demütig in dieser eingestürzten Kathedrale.
      Daran, das Feuerzeug auszumachen, dachte ich nicht. Nicht, solange neben mir der tote Herr Baehr lag. Doch ich hörte noch seine Worte, ich sollte Benzin sparen. Wenn ich nicht das Zippo zuklappen und mit dem alten Mann alleine in der Dunkelheit sitzen wollte, dann hatte ich keine andere Wahl, ich musste weiter, ich musste einen Ausgang aus dem Berg zu finden.
      Meine Augen wanderten über die verästelten Trümmerteile, die ich mittlerweile mit einem geschulten Blick danach beurteilen konnte, wo es sich am meisten lohnen würde, einen Fluchtversuch zu starten.
      Ich flüsterte Herrn Baehr zu, „Danke“, und hob das Zippo an, als würde ich einen Toast auf ihn aussprechen, „Machen Sie es gut.“
      Den letzten Satz hätte ich natürlich gerne von ihm gehört, und ich setzte in meinen Gedanken noch ein ‚Viel Glück‘ hinterher, denn das würde ich brauchen.
     
     

III.
     
    Vor meinem erneuten Eintauchen in die zerschmetterten Glieder des entgleisten Zuges leuchtete ich mit dem Zippo in meine gewählte Richtung, um einen möglichen Pfad zu erkennen. Da ich mit meinem Arm von links nach rechts schwenkte, huschten die Schatten in steilen Winkeln durcheinander und erschwerten so das Erkennen meines Weges. Ich vertraute meinem Gefühl und meiner bisherigen Erfahrung.
      Die Gasse durch den Schrott war eng. Dazu fiel der
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